Riskantes Spiel vor der Stichwahl: Die Türkei rückt weiter nach rechts

Im Zweikampf um das Präsidentenamt in der Türkei lässt sich Oppositionskandidat Kemal Kiliçdaroglu mit rechten Kräften ein. Er riskiert dabei, viele Stimmen zu verlieren.
Göz yummak“ ist ein bekanntes türkisches Sprichwort – ein Auge zudrücken. Und das beschreibt den Zustand vieler progressiver Kräfte in der Türkei im Moment. Denn Präsidentschaftskandidat Kemal Kiliçdaroglu radikalisiert seinen Diskurs auf den letzten Metern des Wahlkampfes. Bei der Stichwahl am kommenden Sonntag wird er es schwerer haben als vor zwei Wochen, denn mit seiner neuen Strategie riskiert er Millionen Stimmen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan lag in der ersten Runde der Wahl am 14. Mai knapp 2,5 Millionen stimmen vor Kiliçdaroglu. Der muss also aufholen und hoffen, die 2,8 Millionen Wähler:innen des dritten Kandidaten, der rechtsextreme Sinan Ogan, für sich zu gewinnen. Dazu kommen über 6 Millionen Nichtwähler:innen.
Genau um Ogans Unterstützung zu gewinnen und um rechtsextreme Wähler:innen für sich zu gewinnen, haben sich Kiliçdaroglu und seine Partei CHP in den letzten Tagen verstärkt gegen Geflüchtete ausgesprochen. Aus diesem Lager wird aber kritisiert, dass die pro-kurdische HDP ebenfalls Kiliçdaroglu unterstützt und sie nicht im selben Bündnis mit den „Terroristen“ sein wollen.
Türkei-Wahl: Angstmacherei und der flüchtlingsfeindliche Diskurs
Um rechtsextreme Wählerinnen und Wähler anzulocken, geht Kiliçdaroglu in seinem angstmachenden Diskurs so weit, dass er auch falsche Informationen verbreitet. Und Ängste schürt: „Diejenigen, die ihre Heimat lieben, sollten zur Wahl gehen, bevor die Flüchtlinge kommen und das Leben unserer Mädchen weiterhin ruinieren“, sagte Kiliçdaroglu. Doch Angstmacherei und der flüchtlingsfeindliche Diskurs scheinen ihm nicht geholfen zu haben: Ogan kündigt am vergangenen Montag an, Erdogan zu unterstützen. Im präsidialen System sei „wichtig, dass das Parlament und der Präsident auf der Grundlage der Stabilität im selben Bündnis sind“, begründet Ogan.
Doch nicht alle seine Wähler:innen sind mit Ogans Entscheidung zufrieden. Ogans Verbündeter und Vorsitzender der Zafer-Partei, Ümit Özdag, kündigte am vergangenen Mittwoch an, dass er Kiliçdaroglu bei der Stichwahl unterstützen werde. Özdag ist für seine rechtsextremen Positionen bekannt, unter anderem wegen seines offenen Flüchtlingshasses. „Als Partei haben wir beschlossen, Kemal Kiliçdaroglu zu unterstützen, der Programme unterstützt, die 13 Millionen Flüchtlinge zurückschicken werden“, betont Özdag. Doch Kiliçdaroglu wird einen hohen Preis für seine Unterstützung zahlen müssen.
Die beiden gaben am Mittwoch bekannt, sich auf ein 7-Punkte-Programm geeinigt zu haben. Dieses Programm geht auch auf Kosten der kurdischen Bevölkerung. „Es wird ein effektiver und entschlossener Kampf gegen alle terroristischen Organisationen geführt, die sich gegen die Existenz und Integrität des Staates richten“, heißt es unter Punkt 4 des Programmes. Wichtig sei vor allem der Kampf gegen Gülenisten, PKK und ISIS. „Im Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus wird die Praxis fortgesetzt, staatliche Beamte anstelle von lokalen Verwaltungsbeamten zu ernennen, deren Verbindung zum Terrorismus durch juristische Beweise belegt ist“ – das heißt auch, dass Kiliçdaroglu mit der Ersetzung von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern durch Treuhänder einverstanden ist – Eine übliche Politik in kurdischen Gebieten zum Zweck staatlicher Repressionen. Damit verabschiedet Kiliçdaroglu sich auch von zuvor von ihm angekündigten Plänen zur Demokratisierung.
Erdogan: „Wir haben bisher 500.000 Syrer in ihre Heimat geschickt“
Kiliçdaroglu wirbt so um neue Wähler:innen. Doch das tut er auf Kosten von mehr als 10 Millionen kurdischen Stimmen. Auch die HDP reagierte am Donnerstag auf die Vereinbarung zwischen Kiliçdaroglu und Özdag.
„Wir betonen nachdrücklich, dass diejenigen, die den politischen Willen der Kurden durch die Treuhänder verraten, auch diejenigen sind, die die Rechte und Freiheiten aller Völker der Türkei verraten“, sagte die HDP Co-Vorsitzende Pervin Buldan. Es sei nicht im Interesse der Gesellschaft, dass „die kurdische Frage ungelöst bleibt“ und sei falsch und unmenschlich, Migranten oder Flüchtlinge für politische Interessen zu instrumentalisieren, betont sie. Doch weil Erdogan für sie „niemals in Frage kommt“ und Kiliçdaroglu die einzige Alternative sei, ruft die HDP ihre Wähler:innen weiterhin auf, ihn zu unterstützen.

Trotzdem besteht die Möglichkeit, dass Kiliçdaroglus rechter Diskurs jetzt seine progressive Wähler:innen abschreckt und sie der Wahl fernbleiben werden, weil sie wenig Chancen auf Veränderung sehen können.
So wirkt Erdogan in den letzten Tagen vor der Stichwahl entspannter. Anders als Kiliçdaroglu, der seine letzten Wahlkampftage mit mehr Verbündetensuche verbracht hat, scheint Erdogan die Unterstützung des rechtsextremen Ogan ohne große Schwierigkeiten gewonnen zu haben. Doch seine frühere „flüchtlingsfreundliche“ Politik scheint sich damit etwas zu ändern: „Wir haben bisher 500.000 Syrer in ihre Heimat geschickt. Wir bauen Häuser, um 1.000.000 Syrer in Syrien unterzubringen“, sagte er am Donnerstag. Aber ausführlich äußert er sich nicht zu dem Thema, denn er will bei dem Flüchtlingsdeal bleiben: Das Geld und die EU-Unterstützung braucht er weiterhin. Seine Kampagne wirft Kiliçdaroglu weiterhin vor, mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu kooperieren und mit Terroristen zusammenzuarbeiten. Kurz vor der Wahl scheint es in der Türkei darum zu gehen, wer der bessere Nationalist ist.