Stimmung vor der Stichwahl: „Kiliçdaroglus Gleichgültigkeit beunruhigt“

Menschenrechtlerin Gizem Özbek aus der Türkei über den Rechtsdrall des politischen Diskurses vor der Stichwahl, Fake News und die Rhetorik gegen Geflüchtete.
Frau Özbek, die Debatte über Geflüchtete ist derzeit das heißeste Thema auf der Wahlkampfagenda in der Türkei. Was ist der Grund dafür?
Im Vorfeld der Stichwahlen wurde das Thema immer häufiger diskutiert. Ich denke, das ist die Strategie von Kemal Kiliçdaroglu, um sowohl die Stimmen der Kemalisten als auch die Stimmen der Nationalisten zu gewinnen, von denen er glaubt, dass sie ihn normalerweise nicht wählen würden.
Ist Erdogans Asylpolitik falsch, wie Kiliçdaroglu ihm vorwirft?
Ich sehe nichts Falsches an Erdogans Politik der Aufnahme von syrischen Geflüchteten seit dem Beginn des Konflikts in Syrien. Was falsch ist, ist das Missmanagement der Geflüchteten, weil sie nicht den ausreichenden Zugang zu Unterstützung bekommen, den sie brauchen. Denn die Türkei will das Geld, das von der EU fließt, selbst verteilen, anstatt es an unabhängige oder kritische Organisationen zu geben. Das liegt daran, dass sie das Geld in ihren Händen behalten wollen, und das hindert Menschen und Organisationen mit Erfahrung in diesem Bereich, die den Geflüchteten wirklich helfen können, daran, ihre Arbeit zu machen. Das ist falsch. Aber das größte Problem ist, dass die Geflüchteten weiterhin als Druckmittel gegen Europa missbraucht werden, weil dieser Ansatz Flüchtlinge entmenschlicht.
Was bedeutet der Wahlkampf zurzeit für die Geflüchteten in der Türkei?
Zur Person
Gizem Özbek (34) arbeitet in Brüssel zum Schutz von Menschenrechtsaktivist:innen. Zuvor arbeitete sie bei Hilfsorganisationen an der türkisch-syrischen Grenze.
Es gibt eine Flut von Fake News von beiden Seiten. Hassreden haben zugenommen. Beide Seiten nutzen die Geflüchteten derzeit für ihren eigenen Profit aus. Erdogan sagt, die Flüchtlinge seien „unsere religiösen Brüder und Schwestern“, und Kiliçdaroglu ignoriert die Menschenrechte. Sie vergessen dabei, dass die Geflüchteten in der Türkei in Armut und unter unmenschlichen Bedingungen leben. Zusätzlich zu den materiellen Problemen leben die Menschen in Angstzuständen, Angst vor sozialen Begegnungen, Angst vor Polizeikontrolle, Angst vor Gewalt. Es gibt zurzeit viel Hass auf den Straßen.
Welche Folgen hat der aktuelle Diskurs für Minderheiten und Menschenrechtsaktivist:innen?
Was mich an der Politik von Kemal Kiliçdaroglu beunruhigt, ist, dass er nicht zögert, sich der Hassreden zu bedienen. Wenn er so offensichtlich die Syrier:innen diskriminiert, um Stimmen zu gewinnen, denke ich, dass er das Gleiche mit den Kurd:innen und mit den anderen Minderheiten tun wird. Die Kurden haben ihn unterstützt, wie sie versprochen haben. Kiliçdaroglu ist selbst ein Alevit, der zuerst gegen Anfeindungen gegen ihn kämpfen musste. Deswegen ist seine politische Gleichgültigkeit gegenüber anderen Identitäten wirklich beunruhigend. Ich denke immer noch, dass Kiliçdaroglu zumindest eine Hoffnung für die politischen Gefangenen, die Menschenrechtsverteidiger, die älteren und kranken Gefangenen ist. Aber was den Nationalismus angeht, stehen uns schwierige Zeiten bevor.
Wie beobachten Sie, dass linke Gruppen oder Menschenrechtsverteidiger:innen Kiliçdaroglu immer noch unterstützen?
Es gibt keine soziale Schicht, die durch Erdogans Politik nicht geschädigt wurde. Es gibt niemanden, der durch ihn nicht verarmt und marginalisiert worden ist. Dies ist der letzte Punkt der Hoffnungslosigkeit. Ich mache mir große Sorgen darüber, was geschehen wird, wenn Erdogan nicht geht. Alle sind auf der Seite von Kiliçdaroglu, unabhängig von ihren Ansichten, denn die Hoffnungslosigkeit ist so groß.
