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„Femizide haben nach dem Austritt aus der Konvention zugenommen“ - Erdogans fatales Signal

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Von: Yağmur Ekim Çay

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Die Türkei hat eine der höchsten Raten an Femiziden der ganzen Welt und die Zahlen steigen weiter. Die Opposition aber schweigt.

Istanbul – Zübeyde Tiras, Nesibe Alas, Gülcan Atar, Gisela Uysal – das sind die Namen einiger der Frauen, die 2022 in der Türkei von ihren Partnern ermordet wurden. Das Land hat eine der höchsten Zahlen an Femiziden in der Welt – mehr als 4000 Frauen wurden in den letzten 15 Jahren von ihren Partnern ermordet, davon im vorigen Jahr allein schon über 300. Feministinnen kämpfen seit Jahren für den gesetzlichen Schutz von Frauen in der Türkei. Doch 2021 dekretierte Präsident Recep Tayyip Erdogan, dass sein Land die Istanbuler Konvention aufgibt, die diesen Schutz bietet.

Begonnen hatte das ganz anders: 2011 twitterte Erdogan: „Gewalt gegen Frauen ist jetzt eine Verletzung der Menschenrechte. Die Istanbul-Konvention wurde heute unter der Führung der Türkei vorbereitet.“ Zehn Jahre später erklärte Erdogan den Rückzug der Türkei aus der Konvention damit, dass sie „die türkische Familienstruktur zerstört“ und „eine rechtliche Grundlage für Homosexualität schafft“.

April 2022: Juristinnen und Feministinnen (mit türkisfarbenem Schal: Hülya Gülbahar) demonstrieren vor dem türkischen Staatsrat gegen ihre Entrechtung.
April 2022: Juristinnen und Feministinnen (mit türkisfarbenem Schal: Hülya Gülbahar) demonstrieren vor dem türkischen Staatsrat gegen ihre Entrechtung. © afp

Austritt aus der Istanbul-Konvention: „Gewalt gegen Frauen hat zugenommen“

Tausende von Anwältinnen klagten sogleich gegen Erdogans Rückzieher, denn laut türkischer Verfassung ist der Staatschef nicht befugt, internationale Verträge ohne Zustimmung des Parlaments einfach aufzukündigen. Ankaras Justiz jedoch wies 2022 alle Klagen ab. Unter den Klägerinnen war auch Hülya Gülbahar. Die 62-jährige Rechtsanwältin aus Istanbul setzt sich praktisch schon ihr ganzes Arbeitsleben für Frauenrechte ein, mehr als 30 Jahre. Sie hat für verschiedene Organisationen gearbeitet, die Gewalt gegen Frauen zu unterbinden versuchen, und kämpft auch weiter für die Emanzipation.

Ihre Wut und Enttäuschung über die Reaktion kann sie aber nicht verhehlen: „Gewalt gegen Frauen und Femizide haben nach dem Austritt aus der Konvention noch mehr zugenommen.“ Der Täter eines besonders brutalen Femizids jüngerer Vergangenheit dankte sogar Erdogan für den Austritt. „Seitdem werden auch LGBTQ-Menschen mehr unterdrückt und in allen Städten wurden staatlich geförderte Hasskundgebungen organisiert, im staatlichen TV wird zur Teilnahme daran aufgerufen.“

Austritt aus der Istanbul-Konvention: Feministinnen und LGBTQs ohne Sicherheit

Gülbahar bemerkt aber auch, dass Erdogans Aktion Kreise über die türkische Nation hinaus zieht: So würden nun insbesondere LGBTQs und Feministinnen unter den in die Türkei Geflüchteten häufiger und viel schneller abgeschoben. „Mit der Istanbul-Konvention hatten sie Sicherheit. Jetzt haben sie auch das nicht mehr. Sie werden in Länder wie Iran abgeschoben, in denen sie zur Todesstrafe verurteilt werden können.“

In der parlamentarischen Opposition scheinen die Verteidiger:innen der Konvention nun Alliierte gefunden zu haben. Der Vorsitzende von „Deva“, Ali Babacan, sagte jüngst bei der Ankündigung eines „Frauenaktionsplans“, dass man der Istanbul-Konvention im Fall des Sieges bei der Türkei-Wahl 2023 wieder beitreten werde. „Es wird einer der ersten Unterschriften unserer Amtseinführungszeremonie sein, wir werden gleich am ersten Tag zu dieser Konvention zurückkehren.“ Mit ihrer Unzufriedenheit sind die Frauen offenbar nicht alleine, Umfragen zur Wahl lassen Präsident Erdogan zittern.

Türkei und die Istanbul-Konvention: Austritt ist ein Signal an die Welt

Gülbahar hört diese Worte, aber sie sieht, dass wenig daraus erwächst. Gerade die konservative Partei „Saadet“ sei betont zurückhaltend. Und sie ist nicht die Einzige. Die Anwältin bemängelt die Passivität der Oppositionspartner und dass „die Istanbul-Konvention in keinem gemeinsamen Text ausdrücklich erwähnt“ wird. Viele der Spitzenoppositionellen wie Kemal Kiliçdaroglu und Meral Aksener würden „in ihren persönlichen Erklärungen sagen, dass sie wieder der Konvention beitreten“ – aber in keinem Parteitext findet sich das wieder. Das am Montag von sechs Oppositionsparteien vorgestellte Wahlprogramm erwähnt die Konvention auch nicht.

Gülbahar hält das für fatal. Sende Erdogans Austritt doch ein Signal an die ganze Welt, dass die türkische Regierung, unter deren Dach doch der Europarat die Konvention formuliert hatte, das Prinzip der Gleichheit der Geschlechter aufgegeben hat und eine LGBTQ-Menschen diskriminierende Politik umsetzen wird. Die feministische Anwältin sieht allerdings in der Ermächtigung Erdogans, über das Parlament hinweg zu entscheiden, den möglichen Anfang einer gefährlichen Entwicklung: „Der Austritt der Türkei aus der vom Europarat ausgearbeiteten Istanbul Konvention war ein großer Schritt hin zum Ausstieg aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und sogar dem Europarat selbst.“

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