Kurz nach Erdbeben-Katastrophe: Erdogan beschießt Kurdengebiete
Trotz der verheerenden Erdbeben-Katastrophe in der Region setzt das türkische Militär seine Angriffe auf kurdische Gebiete in Nordsyrien fort.
Update vom Montag, 13. Februar, 18.30 Uhr: Nach den schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kurdisch kontrollierte Gebiete in Syrien bombardieren lassen. Das bestätigte nun auch der türkische Botschafter Ahmet Basar Sen im Interview mit der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA. Es handle sich dabei um eine Antwort auf die von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ausgeübten Anschläge auf die Türkei.
„Die syrischen Ableger der Terrororganisation PKK, nämlich die PYD/YPG, hat einen niederträchtigen Angriff mit Raketenwerfern von Tel Rifaat aus auf den Zuständigkeitsbereich unseres Öncüpınar-Grenzpostens durchgeführt“, so Sen. „Unsere Antwort hierauf zielte darauf ab, die Sicherheit der Grenzregion zu gewährleisten.“ Die PKK und ihre Ableger versuche, die Öffentlichkeit mit Desinformationen zu täuschen, sagte der Botschafter – und verteidigte das Vorgehen der türkischen Regierung.
Erdogan beschießt Kurdengebiete trotz Erdbeben-Katastrophe
Erstmeldung vom Mittwoch, 8. Februar, 10.00 Uhr: Ankara – Erst nach und nach werden die verheerenden Auswirkungen des Erdbebens in der Türkei und Syrien in ihrem vollen Umfang deutlich.

Insgesamt 46.000 Helferinnen und Helfer befinden sich im Einsatz, es gibt Berichte über mehrere tausend Tote, viele Menschen werden weiterhin vermisst. Inmitten der humanitären Notlage soll die Türkei kurdisch kontrollierte Gebiete in Nordsyrien angegriffen haben. Wird die humanitäre Katastrophe vor Ort mutwillig verschlimmert?
Erdbeben in der Türkei und Syrien: Türkei beschießt betroffene Kurdengebiete in Nordsyrien
Trotz der katastrophalen Auswirkungen des Erdbebens in der Türkei und Syrien hat das türkische Militär offenbar in der Nacht zum Dienstag, dem 07. Februar, die vom Beben betroffene nordsyrische Region um Tal Rifaat attackiert. Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland erklärt der Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido, in dieser Gegend hätten viele kurdische Vertriebene aus der Region Afrin Schutz gesucht.

Der Menschenrechtler findet klare Worte: „Es ist skandalös, dass ein Nato-Staat eine humanitäre Katastrophe mutwillig verschlimmert. Von anderen Nato-Ländern kommt dazu kein Wort der Kritik“, so Sido. Die Türkei argumentiert mit vermeintlichen Angriffen im Grenzgebiet. Immer wieder lässt sich auffällig verhaltene Kritik der Nato-Staaten an ihrem strategischen Verbündeten Recep Tayyip Erdogan registrieren, so auch jetzt.
Unabhängig überprüfen ließen sich Meldungen über die Angriffe zunächst nicht. Aber auch die vor Ort im Einsatz befindliche Helferin Fee Baumann von der Hilfsorganisation „Kurdischer Roter Halbmond“ berichtet gegenüber dem ZDF, dringend notwendige Hilfe werde „verhindert“. Baumann sagt: „Wir haben gestern Nacht noch mal Nachbeben gehabt, und trotzdem wurden weiter türkische Luftangriffe geflogen.“ Die Helferin betont, es handle sich um eine Gegend, „die schwer betroffen war von den Erdbeben und die vorher schon von den Luftangriffen schwer in Mitleidenschaft gezogen worden war“. Es zeichnet sich ein dramatisches Bild einer Region, die nur wenig Hilfe erreicht.
Angriffe auf Kurdengebiete nach Erdbeben in Syrien: Forderungen nach offenen Grenzen für Hilfe
Die humanitäre Notlage in den kurdisch kontrollierten Gebieten in Nordsyrien verschlimmert sich durch die Blockade der Türkei. Die Versorgung von Verletzten ist unzureichend, denn Grenzübergänge in die kurdischen Gebiete Nordsyriens seien auch für humanitäre Lieferungen abgeriegelt gewesen, so Menschenrechtler Kamal Sido im RND. Und weiter: „Das gesamte medizinische Versorgungssystem lag wegen des andauernden Bürgerkrieges sowie syrischer und russischer Angriffe bereits in Trümmern“. Die Folge: Mit dem Erdbeben in Syrien spitzt sich die ohnehin prekäre Lage vor Ort zu.
Sido fordert deshalb die Öffnung der Grenzen für Hilfsleistungen, mit einem Verweis, auf Berichte der vergangenen Jahre: „Für islamistische Kämpfer und moderne Waffen waren diese Grenzen immer geöffnet. Jetzt müssen endlich auch humanitäre Lieferungen für Nordsyrien und für ganz Syrien durchgelassen werden.“ Außer dem nun beschädigten Übergang Bab el Hawa nach Idlib gibt es keinen humanitären Korridor in die Region, darunter leiden vor allem die kurdischen Gebiete.
Auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) fordert jetzt, „Es gibt nur einen offenen Grenzübergang und der ist nun beschädigt. Deswegen ist die Öffnung aller Grenzübergänge so zentral, damit die humanitäre Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird.“ Die Ministerin weiter: „Der Zugang von Hilfsorganisationen zu Nordsyrien muss gewährleistet werden.“ Es ist ein Wettrennen gegen die Zeit.
Erdogans Rolle bei den Erdbeben in der Türkei und Syrien
Die türkische Administration gerät in die Kritik, doch nicht ausschließlich wegen der Angriffe auf kurdische Gebiete: auch Berichte über die Zweckentfremdung der Erdbebensteuer durch die Regierung ruft Unmut über die politische Führung hervor. Zuletzt war ein Video des ehemaligen Finanzministers Mehmet Simsek aus dem Jahr 2011 aufgetaucht, in dem dieser berichtet, wofür das Geld verwendet worden sei. „Das Geld wird für Gesundheit, Straßen, Bahnstrecken, Luftfahrt, Landwirtschaft und für die Bildung ausgegeben“, so Simsek, der auch erklärt, man habe die Einnahmen zudem für die Rückzahlung von Schulden beim Internationalen Währungsfonds verwendet.
Die Rolle der Erdogan-Administration macht das Erdbeben in der Türkei und Syrien zum Politikum, ob es um strukturell benachteiligte Regionen geht, Angriffe auf Kurdinnen und Kurden oder Gelder aus der Erdbebensteuer. In der AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan möchte man davon nichts wissen – kein Wunder: Das Beben könnte auch das Vertrauen ehemaliger Unterstützerinnen und Unterstützer des Präsidenten in ihren Regierungschef nachhaltig erschüttern. (ales)