Tomaten vor den Latz

Wie Frauen ihren eigenen Weg im politischen Privaten suchten.
Von ANITA STRECKER
Ihr Abiturzeugnis hat sie im Hosenanzug entgegen genommen. Ein Eklat. Ungehörig für ein "Mädchen", damals Mitte der 60er, als Männer ihren Ehefrauen noch qua Gesetz verbieten konnten, berufstätig zu sein. Eine Provokation. Zumal im Mädchen-Lyzeum in Bad Hersfeld, wo die Welt noch in geregelter Ordnung war, weit entfernt vom aufkeimenden Aufbegehren der studentischen Jugend.
Thea Vogel muss fast lachen, wenn sie zurückdenkt. Aufmüpfig und "politisch angefixt" war sie schon damals. Hatte Auseinandersetzungen mit dem Vater ausgefochten über die typischen Fragen: "Was habt ihr damals getan während der Nazizeit?" Und den Satz bis zum Erbrechen gehört, der allem Disput ein Ende zu setzen suchte: "Dann geht doch nach drüben."
Ultima Ratio der Eltern, die dialogische Auseinandersetzung nie gelernt hatten. Weil die Hierarchie klar war. Der Vater war das Familienoberhaupt, gegen dessen Willen sich selbst die Mutter allenfalls mit diplomatischen Mitteln durchsetzte. "Pflegerin und Trösterin sollte die Frau sein, Sinnbild bescheidener Harmonie, Ordnungsfaktor in der einzig verlässlichen Welt des Privaten. Erwerbstätigkeit und gesellschaftliches Engagement sollte die Frau nur eingehen, wenn es die familiären Anforderungen zulassen." So hieß es noch 1966 im Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frau in der Gesellschaft.
Am eigenen Leib verspürt
1967 schreibt sich Thea Vogel in Frankfurt im Fach Erziehungswissenschaften ein. Ein Jahr später "rutscht" sie in den aktiven Streik. "Das war der Wendepunkt." Erstmals fühlt sie sich selbstbestimmt. "Als handelnde Person, die selbst entscheidet, was und wie sie lernt." Die junge Frau engagiert sich in der linken Studentengruppe Roter Gallus, die später in "Revolutionärer Kampf" aufgeht.
Sie liest "Das Kapital", arbeitet politisch und spürt in den Arbeitsgruppen am eigenen Leib, was die heutige Filmemacherin Helke Sander bei der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes an diesem 15. September '68 in Frankfurt zur ihrer Rede zur Befreiung der Frau treibt: Rädelsführer und Redner der emanzipativen Studentenbewegung sind nur Männer. Themen der Frauen, ins Private verdrängte gesellschaftliche Konflikte, bleiben unausgesprochen. "Wir Frauen hatten oft das Gefühl, nicht gehört zu werden. Und trauten uns auch nicht, uns zu artikulieren." Wie viele Studentinnen sucht auch Thea Vogel autonome Zirkel, schließt sich der Frauengruppe im Revolutionären Kampf an, diskutiert über sexuelle Ausbeutung, Entmündigung, partnerschaftliche Beziehungsformen.
Die Sander-Rede bei der SDS-Bundeskonferenz endet mit dem legendären Tomatenwurf. Keiner der männlichen Studenten macht Anstalten über Frauenthemen zu reden, viele reagieren höhnisch, was die schwangere Soziologiestudentin Sigrid Rüger aus Berlin derart in Rage treibt, dass sie sechs Tomaten in Richtung Podium schleudert. Hans-Jürgen Krahl, führender Kopf der Frankfurter SDS-Gruppe, wird am Kopf getroffen. Eine symbolträchtige Aktion: Männliche Studenten, die sich gegen Autoritäten stemmen, kriegen mit denselben "Waffen" das eigene Autoritätsgehabe vor den Latz geknallt. Kurz darauf gründen Studentinnen im SDS den Frankfurter Weiberrat - den Aktionsrat zur Befreiung der Frau. Die Emanzipationsbewegung zieht Kreise, wird öffentlich, vor allem ab 1971, bei den Demos gegen den Abtreibungsparagrafen 218.
Im Großraum beim "Reiter"
Aber die Bewegung der Frauen reicht weiter. Während die Männer zu Opel gehen, um neue gesellschaftliche Ideen und Solidarität in die Betriebe zu tragen, verdingen sich Thea Vogel und ihre Mitstreiterinnen in den Großraum-Schreibbüros bei Neckermann.
"Die Frauen haben fürchterlich wenig verdient, mussten samstags arbeiten und wurden kontrolliert, wie oft und wie lange sie zur Toilette gingen." Ein Jahr lang malocht Thea Vogel von sechs Uhr morgens an, sieben Tage die Woche. Dazu politische Arbeit, dazu Uni und samstags nach der Arbeit zur obligaten Demonstration.
"Das war ein ziemlich hartes Leben." In den Toiletten von Neckermann kleben plötzlich Zettel "gegen Samstagsarbeit" oder mit dem Spruch: "Der alte Reiter bescheißt uns auch am Samstag weiter." Immerhin: Die Studentin erstreitet den Frauen im Großraumbüro einen Kaffeeautomaten, der zuvor nur den Programmierern im Betrieb vorbehalten blieb.
In der alten WG
Das Private ist politisch: Dem Slogan der neuen Frauenbewegung folgen bundesweit Aktionen. 1970 entstehen erste Zusammenschlüsse zur Abschaffung des Paragrafen 218. Ein Jahr später provozieren prominente Frauen mit ihrem Bekenntnis "Ich habe abgetrieben" Skandal-Schlagzeilen. Alice Schwarzer stilisiert sich zur Frontfrau der Emanzipationsbewegung. Für Thea Vogel ist sie das nicht. Ihr Engagement zielt auf partnerschaftliche Beziehungen, auf Selbstbestimmtheit, ohne auf Kinder zu verzichten.
Sie sitzt auf dem blauen Sofa in der geräumigen Altbauwohnung in der Holbeinstraße, die sie schon als Studentin mit ihrer Frauen-WG bewohnte. Ein legendärer Ort. Vier Kinder sind hier per Hausgeburt auf die Welt gekommen. Drei davon sind ihre eigenen.
Ihr Mann, der Lehrer Paul Ruhnau-Vogel, damals Student wie sie, hatte in einem besetzten Haus in der Bockenheimer Landstraße gewohnt. Auch die Themen sind geblieben: Frauengesundheit, Selbstbestimmtheit und Wissen über den eigenen Körper - Thea Vogel hat sie zum Beruf gemacht.
Bei Reisen nach Holland und in die USA lernt sie Frauengesundheitszentren und ein Geburtshaus kennen. Thea Vogel schließt sich einer Gruppe von Schwangeren und Müttern an, die anders leben wollen, den verfemten Begriff der Mütterlichkeit positiv definieren möchten, Beziehung und Bindung zum Kind unter dem Aspekt der Lust betrachten. Unter dem Motto "wir erobern uns die Stadt zurück" stillen die jungen Mütter in der Öffentlichkeit ihre Kinder.
1978 gründet sie mit anderen Frauen das Frauengesundheitszentrum und das Geburtshaus, bildet sich als Geburtsvorbereiterin weiter. Bis heute arbeitet Thea Vogel im Führungsteam des Frauengesundheitszentrums, das ohne Hierarchien funktioniert. Der Geist von 1968 hat sie selbstbewusst gemacht, sagt sie über sich selbst. Mutig, das eigene Engagement zu ihrem Beruf zu machen. Das ist geblieben.