Tod in der Avocado-Plantage

Das Buch „Nekropolitik“ sucht Erklärungen dafür, warum die organisierte Gewalt in Mexiko seit 15 Jahren so ausufert.
Allein während der dreistündigen Fernsehübertragung des Superbowl konsumiert die US-amerikanische Bevölkerung etwa 35 000 Tonnen Avocados. Aus den Früchten wird Guacamole zubereitet – ein Dip für die Tortillachips. Man kann nur ahnen, wie viel Geld sich mit den grün-braunen Früchten machen lässt, wenn schon in der Zeitspanne eines einzigen Football-Endspiels Tausende Lastwagenladungen davon verspeist werden.
Aber was hat der große Appetit der westlichen Welt auf Avocados mit der Gewalt in Mexiko zu tun? Einen Zusammenhang erkennt der Frankfurter Humangeograf und Politikwissenschaftler Timo Dorsch in „Nekropolitik – Neoliberalismus, Staat und Organisiertes Verbrechen in Mexiko“.
Im Kern geht es dabei um die Frage: Was hat im vergangenen Jahrzehnt zur „Entgrenzung der Gewalt“ in Mexiko geführt, wie Dorsch schreibt? Zu einer Gewalt, die bis heute weit über 300 000 Todesopfer gefordert hat? Und das in einer Demokratie?
Die eine klare Antwort bietet der Autor – ein Grenzgänger zwischen Deutschland und Mexiko und zwischen Journalismus und Wissenschaft – zwar nicht an. Doch die vielen konkreten Beispiele, die Dorsch in seine Analyse einstreut, machen die Normalisierung massiver Gewalt in Mexiko anschaulicher und verständlicher.
Eine der Hauptthesen: Es gibt in Mexiko eine Grenzverwischung zwischen staatlichen und kriminellen Akteuren, eine in manchen Gegenden hybride Struktur, gegen die vorzugehen für die Zivilgesellschaft sehr schwierig ist. Sprachlich schlägt sich diese Vermischung in dem Begriff „Narco“ nieder. Drehte sich das Wort ursprünglich nur um den Handel mit Drogen, stünde es mittlerweile für jegliche „Verstrickung der scheinbar normalen legalen Welt mit der illegalen“, schreibt Dorsch. Schätzungen zufolge arbeiten in Mexiko rund 500 000 Menschen in Strukturen des organisierten Verbrechens. Und da kommen die Avocados ins Spiel.
Mexiko ist Weltmarktführer im Avocado-Export. Hauptanbaugebiet ist der südwestliche Bundesstaat Michoacán. Dorsch beschreibt, wie der Anstieg des Marktpreises für Avocados dazu beigetragen hat, dass kriminelle Gruppen wie die „Caballeros Templarios“ („Tempelritter“) Teile der lokalen Avocadowirtschaft übernommen haben.
Das Mittel der Wahl für die Akquise neuer Ländereien seien oft Entführungen. So werde etwa der Schwiegersohn eines Avocadobauers entführt. Und der kommt erst frei, wenn die Kriminellen einen Teil der Avocadofarm erhalten haben – ganz formell übrigens mit Unterschrift bei einem Notar. „Das Treiben der Organisierten Kriminalität nahm in dem Grad zu, wie die Avocadoökonomie an Wert gewann“, schreibt Dorsch über Michoacán.
Das Beispiel illustriert die Verschmelzung zwischen illegaler und legaler Ökonomie, oder, wie Dorsch schreibt: „Die verstärkte Einheit zwischen Gewalt und Kapitalismus“ in Mexiko.
Und ähnlich wie mit Avocados floriert inzwischen auch das Geschäft der Kartelle im Bergbau und mit Mahagoni-Hölzern.
Dorsch hat viel vor Ort recherchiert. Die Einblicke die er so geben kann, zählen zu den Stärken des Buches. Etwa, wenn ein kommunaler Beamter von seinem Leben in Michoacán erzählt: „Zerstückelte, überall, täglich und am helllichten Tag“. Greifbar wird dabei auch die oft unrühmliche Rolle des Staates. So erzählt eben jener Beamte von Polizisten, die Menschen entführen – und davon, wie sich die lokale Bevölkerung bewaffnet hat, um sich vor den Kartellen, aber auch vor der Staatsmacht, zu schützen.
Dem Militär gelang es nicht, diese Bürgerwehr – eine von vielen „Autodefensas“ im Land – zu entwaffnen. Dort, wo es doch gelingt, können die Folgen tödlich sein. So etwa 2010 im Süden Michoacáns: Soldat:innen entwaffneten dort eine ganze Bürgerwehr. „Mit der Militäraktion wurde eine Welle der Gewalt gegen die nun unbewaffnete Zivilbevölkerung losgetreten“, schreibt Dorsch. Innerhalb kürzester Zeit ermordete das lokale Kartell 34 Menschen, weitere „verschwanden“, Dutzende Familien wurden vertrieben. Eine Strafverfolgung gab es wohl – wie so oft – nicht.
Wenn Kartelle töten, um Kapital anzuhäufen oder um ihre Geschäfte durch Abschreckung zu erhalten und wenn dieses Töten oft keine Konsequenzen hat, sei das „Nekropolitik“, schreibt Dorsch. Der Begriff nimmt Bezug auf die Ideen des postkolonialen Theoretikers Achille Mbembe, der „Nekropolitik“ als die „gegenwärtige Form der Unterwerfung des Lebens unter die Macht des Todes“ beschreibt. Und die Weltmarktbedingungen hielten in Mexiko diese Macht am Leben.
„So lange die imperiale Lebensweise fortbesteht“, schreibt Dorsch desillusioniert, „wird es kein Ende der Nekropolitik geben“.