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Sachsen: Radikalisierung und Zivilcourage

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Gegendemonstranten halten anlässlich einer als „Spaziergang“ deklarierten Demonstration von Impfgegnern und Kritikern der Corona-Maßnahmen vor dem Universitätsklinikum Dresden einen Banner mit der Aufschrift „Sachsen lasst euch impfen“.
Gegendemonstranten halten anlässlich einer als „Spaziergang“ deklarierten Demonstration von Impfgegnern und Kritikern der Corona-Maßnahmen vor dem Universitätsklinikum Dresden einen Banner mit der Aufschrift „Sachsen lasst euch impfen“. © Sebastian /afp

Niedrigste Impfquote, massivster Widerstand, zeitweise höchste Inzidenz: Sachsen erlebt eine Radikalisierung – doch in den rechten Hochburgen blitzen jetzt auch Vernunft und Zivilcourage auf. Eine Analyse von Franziska Klemenz.

Sachsen überrascht. Mal wieder. Nach wochenlanger Überforderung plötzlich ein Großeinsatz der Polizei: Wasserwerfer, Hubschrauber und mehr als 1000 Einsatzkräfte schützen am Donnerstag das Dresdner Uniklinikum. Die Polizei vertreibt die von der rechtsextremen Partei „Freie Sachsen“ mobilisierten Corona-Demonstrierenden konsequent, nimmt Personalien auf und erstellt Anzeigen. Still, aber bedrohlich hatten diese sich zuvor rund um das Klinik-Zentrum versammelt. 

Auch Hunderte Medizin-Studierende stehen stundenlang um das Krankenhaus herum, wollen es verteidigen mit Masken, Abstand, Impf-Appellen. Dann kippt der Einsatz. Die Polizei kesselt 22 Studierende ein, zeigt sie an wegen mangelnden Abstands und dem Bruch der Demogrenze von zehn Personen. Es drohen Bußgelder. Seither geht eine Welle der Empörung durch ganz Sachsen. Selbst Ministerpräsident Michael Kretschmer und Innenminister Roland Wöller (beide CDU) loben die Zivilcourage der Studierenden. Kritik am Vorgehen der Polizei äußern die CDU-Politiker jedoch nicht.

Sachsen: Image als negativer Superlativ-Staat

Schon wieder ein neues Glied in der Skandalkette von Sachsen, das sein Image als negativer Superlativ-Staat manifestiert. Mit 61 Prozent Zweitgeimpften belegt Sachsen in Deutschland den letzten Platz. Bundesweit – aber besonders in Sachsen – haben sich Menschen in der Pandemie radikalisiert, haben sich vom Staat ab- und Rechtsextremen zugewandt. Politik und Polizei sehen hilflos zu.

Die Verharmlosung von Rechtsextremismus hat in Sachsen Tradition: Das Urteil des früheren Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, die Sachsen seien immun gegen Rechtsextremismus, das Wegschauen am rechten Rand, 2004 der Einzug der NPD in den Landtag, die Fehler im Umgang mit Pegida und der AfD. 

Das Geschäft mit dem Hass

Die Anheizer hinter den derzeitigen Aufmärschen machen schon lange Geschäfte mit Hass und Hetze. Ein Neonazi und Rechtsanwalt aus Chemnitz, ein Ex-NPD-Kader aus dem Erzgebirge und zugezogene Neonazis aus dem Westen stecken hinter den „Freien Sachsen“, dem größten Motor des Protests. Sie bringen vergiftete Verschwörungs- und Umsturzfantasien in den Diskurs. 

Akteure wie das rechtsradikale „Compact-Magazin“ oder ein Gros der Sachsen-AfD surfen auf der Welle mit. Auch Angst und Vorurteile gegen Geflüchtete nutzen sie aus. Anders als Geflüchtete beeinträchtigen die Regeln zur Eindämmungen der Pandemie den Alltag der Menschen aber wirklich und taugen somit besser als Nährboden für Hass.

„Freie Sachsen“: Eine kleine, aber laute Minderheit

Das Problem ist eine relativ kleine, aber aggressive und laute Minderheit, die jeglichen Respekt vor Staat, vor Demokratie und Presse verloren hat. Dazu kommt der Verlust jeglicher staatlicher Autorität. Galt die Polizei bei der Pegida-Bewegung noch als Freund, ist sie bei den Corona-Protesten für viele zum Feind geworden.

In Pirna, wo im Frühling 2020 sogar ein Polizist zum „Spazieren“ aufgerufen hatte, gingen wenige Wochen später 30 Demonstrierende auf Einsatzkräfte los. Gewalt ist zur Gewohnheit geworden. Wenn die Polizei sich entgegenstellt, beschimpfen Protestierende sie, beißen, würgen, treten, schlagen, werfen Flaschen oder Steine. Die „Freien Sachsen“ haben Kampfbegriffe wie „Kretschmers Milizen“ oder „Costapo“ („Corona-Staatspolizei“) etabliert.

Mordaufrufe auf Telegram

Wegen extrem hoher Infektionszahlen durften sich seit dem 22. November 2021 nur noch zehn Personen versammeln. Die Regelung wirkte wie ein Brandbeschleuniger, in immer mehr Städten formierten sich illegale Aufmärsche, organisiert über den Messengerdienst Telegram.

Ministerpräsident Michael Kretschmer steht im Zentrum der Wut. Im Januar 2021 pöbelten Corona-Leugner:innen vor dem Privathaus des CDU-Politikers. Während des Bundestags-Wahlkampfs erwartete eine grölende Menge ihn bei fast allen Auftritten. Das Jahr 2021 endete für Sachsen mit einer Razzia gegen Rechtsradikale, die auf Telegram Kretschmers Ermordung geplant haben sollen, und mit einem Fackel-Aufzug vor dem Privathaus der Gesundheitsministerin.

Katz- und Maus-Spiel mit der Polizei

Nach Deutung des Protestpublikums dirigiert die Regierung eine Lügendiktatur. Medien, Wissenschaft, Behörden sind demnach Handlanger des Systems, Menschen mit anderen Meinungen „Schlafschafe“, Widerstand und Gewalt logische Notwehr-Mechanismen.

Die Polizei wirkt meist unterbesetzt und überfordert, lässt eine klare Einsatzstrategie vermissen. Die Marschierenden dagegen haben ihre Strategie verbessert, meiden Straßen, die zum Einkesseln geeignet sind, schlagen Haken, teilen sich auf. Nur selten kann die Polizei größere Mengen festsetzen. 

Ihr oberster Dienstherr, Innenminister Roland Wöller, gibt ihnen keine Linie vor. Nach Demonstrationen mit massenweise Straftaten und noch mehr Ordnungswidrigkeiten schiebt er die Verantwortung gern auf Justiz oder Polizei. Forderungen nach härterem Durchgreifen entgegnet er, dass sich die Corona-Schutzverordnung nicht mit Wasserwerfern durchsetzen lasse.

Sachsens Spitzenpolitiker Kretschmer auf Schlingerkurs

Auch Ministerpräsident Kretschmer büßt mit Alleingängen und seinem Schlingerkurs seit Pandemiebeginn massiv Vertrauen ein. Ein häufiger Vorwurf: Seine Gespräche mit Corona- und Impfgegner:innen, mit der „Aluhut“-Fraktion und Verschwörungsmythiker:innen – sein Konzept des Dialogs sei längst an Grenzen gestoßen.

Auch Kretschmer hat inzwischen eingesehen, dass manche Menschen unerreichbar tief im Verschwörungsstrudel versunken sind. Sie wähnen sich auf Siegeskurs, sind dem Irrglauben verfallen, stärker als der Staat zu sein, ihn vorführen und schwach aussehen lassen zu können.

Die Zivilgesellschaft wacht auf und formiert Gegenprotest

Doch es gibt nicht nur Einpeitscher und Radikale, sondern auch Mitläufer:innen, die sich haben mitreißen lassen – begünstigt durch eine extrem lange Phase der Unsicherheiten und Ängste. Vielleicht bemerken sie noch, dass sie in ein Umfeld gespült wurden, in dem sie nicht bleiben wollen. Sie werden sich über eine Tür freuen, die den Weg zurück in die gesellschaftliche Mitte ermöglicht. Sie sind noch nicht verloren. 

Bewegung blitzt gerade in Sachsens sonst eher träger Zivilgesellschaft auf. In Hochburgen des Corona-Protests wie Bautzen, Freiberg, Dresden, Leipzig oder Zittau wenden sich Tausende mit offenen Briefen, Kerzen oder Plakaten gegen den Hass. Es ist ein Hauch jener Zivilcourage, die Kretschmer immer wieder einfordert. Seit vergangenem Freitag dürfen in Sachsen wieder 1000 Menschen demonstrieren. Das entlastet auch die Polizei.

Möglicherweise trauen sich künftig so viele Vernünftige auf die Straße, dass Sachsen zur Abwechslung mal für ein positives Superlativ steht. Sachsen hat noch Chancen auf einen Siegeszug der Vernünftigen. (Franziska Klemenz berichtet als Redakteurin aus Dresden für die Sächsische Zeitung)

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