Tausende AKP-Gegner demonstrieren gegen Urteil

In Ankara demonstrieren tausende Anhänger der oppositionellen CHP gegen die Verurteilung von Enis Berberoglu. Der Politiker muss wegen angeblichen Geheimnisverrats ins Gefängnis.
Vor dreieinhalb Jahren ließ ein türkischer Staatsanwalt eine Lastwagenkolonne nahe Adana auf der Autobahn kontrollieren. In den drei Lastern förderten die Gendarmen Waffen und Munition zutage. Der Transport vom Januar 2014 war für Syrien bestimmt. Spediteur war der türkische Geheimdienst MIT.
Mit der Razzia begann eine Staatsaffäre. Sie offenbarte die Aufrüstung syrischer Rebellen durch die Türkei. Der Staat reagierte drakonisch. Fast alle Staatsanwälte, Polizisten, Journalisten, die sich je mit dem Transport befassten, sitzen mittlerweile im Gefängnis oder sind auf der Flucht. Am Mittwochabend erreichte der Fall mit der sozialdemokratischen CHP auch die größte Oppositionspartei. Da verurteilte ein Istanbuler Strafgericht den 60-jährigen CHP-Abgeordneten und Vizeparteichef Enis Berberoglu zu 25 Jahren Haft, weil er in der Affäre Staatsgeheimnisse verraten habe.
Erstmals sah sich die CHP-Führung gezwungen, auf ein politisch verstandenes Urteil mit der Mobilisierung ihrer Anhänger auf der Straße zu reagieren. CHP-Fraktionschef Engin Altay sprach von „Staatstyrannei“ gegen seine Partei, das Urteil diene dazu, die Opposition und Gegner des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan einzuschüchtern.
Am Donnerstag starteten tausende CHP-Anhänger in Ankara einen Protestmarsch von der Hauptstadt zum Maltepe-Gefängnis in der 450 Kilometer entfernten Metropole Istanbul, wo Berberoglu einsitzt. „Wir sagen, es reicht“, sagte der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu laut Medienberichten. Auch in anderen Städten demonstrierten viele.
Der CHP-Abgeordnete und frühere „Hürriyet“-Chefredakteur Berberoglu wurde verurteilt, weil er Aufnahmen der Autobahnrazzia an die oppositionelle Zeitung „Cumhuriyet“ weitergegeben habe soll, die diese dann Ende Mai 2015 vor der Parlamentswahl vom 7. Juni publizierte. Dies wertete das Gericht als „politische oder militärische Spionage“. Der ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar und der Hauptstadtbüroleiter der Zeitung, Erdem Gül, waren für die Veröffentlichung bereits wegen Geheimnisverrats verurteilt worden. Beide legten Berufung ein; Dündar lebt heute im Exil in Deutschland, Gül ist auf freiem Fuß. Auch im Fall Berberoglu wurden die Artikel als Zuarbeit für die Bewegung des Islampredigers Fethullah Gülen gewertet, welche die Regierung für den gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 verantwortlich macht.
Kommentatoren kritisierten das Urteil in Internetforen. Demnach war die Affäre zum Zeitpunkt der Cumhuriyet-Veröffentlichung nicht mehr geheim gewesen. Das Urteil bestätige zudem, was die Regierung bis heute abstreitet: dass es Waffenlieferungen an syrische Rebellen gab. Die islamisch-konservative AKP-Regierung bezeichnete die Transporte stets als Hilfslieferungen für Turkmenen in Syrien.
Für die CHP ist das Urteil auch brisant, weil sie mit Schuld daran trägt, dass es dazu kam. Zwei Monate vor dem Putschversuch hatten CHP-Abgeordnete einer Beschlussvorlage der AKP zugestimmt, mit der die Immunität von Abgeordneten aufgehoben wurde. Da sich der Beschluss vornehmlich gegen Abgeordnete der prokurdischen HDP richtete, wollte die CHP vor den Wahlen nicht als Komplize von „Terroristen“ erscheinen. Nach dem Putschversuch wurden ein Dutzend HDP-Abgeordnete wegen „Terrorpropaganda“ festgenommen, darunter die Parteivorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas, die beide noch im Gefängnis sitzen.