Tag für Tag enteignet

Viele Menschen tragen zum privatwirtschaftlichen Kapital bei, obwohl sie nicht regulär entlohnt werden. Es wäre nur gerecht, sie an den von ihnen geschaffenen Werten zu beteiligen. Ein Gastbeitrag von Silke van Dyk
Pandemie, Krieg in der Ukraine, weltweite Dürren und Überschwemmungen, Explosion der Energiepreise und eine Inflation, die viele Menschen in Existenznot bringt: Mit diesen Entwicklungen hat eine erhebliche Verdichtung und Beschleunigung von Krisendynamiken (auch) in Ländern des globalen Nordens stattgefunden. Soziale Infrastrukturen – vom Gesundheits- und Pflegebereich über das Bildungssystem bis hin zur Energieversorgung – erhalten neue oder, im letzteren Fall, kaum gekannte Aufmerksamkeit. In der Krisenbewältigung ist der Staat gefragt wie nie: von den Corona-Hilfen über die Entlastungspakete und Gas- wie Strompreisdeckel bis hin zur staatlichen ‚Rettung‘ angeschlagener Konzerne.
Der angesichts dessen bisweilen erschallende Ruf vom Ende des Neoliberalismus lenkt zu Recht die Aufmerksamkeit auf dessen Hegemoniekrise, verdeckt aber zugleich, dass staatliche Interventionen in Not- und Kriegszeiten eher die Regel als die Ausnahme sind, während grundlegende Muster der Verteilungs-, Eigentums- und Infrastrukturpolitik bislang unberührt bleiben. Weder haben die viel diskutierten Belastungen für private und öffentliche Haushalte dazu geführt, die immense Vermögenskonzentration zum Thema zu machen, noch ist nach dem zynischen Applaus für Pflegekräfte in der Pandemie und den eklatanten Mängeln im Bildungssystem eine Neuausrichtung der Gesundheits- und Bildungsinfrastruktur zu erkennen.
Die Schuldenbremse wird ausgesetzt, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt
Die gesetzlich verankerte Schuldenbremse – die eine zentrale Finanzierungsquelle staatlicher Politik dem demokratischen Prozess entzieht – wird ausgesetzt, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt; und darüber, wie sinnvoll es ist, Investitionen in lebensnotwendige, teilhabesichernde und nachhaltige Infrastrukturen als Schulden zu verbuchen und als Last für zukünftige Generationen zu de-legitimieren, wird erst gar nicht diskutiert.
In post-pandemischen Zeiten, in denen das Credo der knappen Kassen wieder lauter wird, ist es umso dringender geboten, nicht nur die Verteilungs-, sondern auch die Eigentumsverhältnisse genauer in den Blick zu nehmen. Tatsächlich erleben wir seit geraumer Zeit eine doppelte Radikalisierung des Privateigentums: zum einen seinen Bedeutungsgewinn angesichts der Privatisierung und Ökonomisierung öffentlicher Güter (zum Beispiel in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wohnen, Transport, Kultur) bei gleichzeitig steigenden Bedarfen und dem Abbau sozialer Rechte, zum anderen seine zunehmende Konzentration in den Händen einer Minderheit.
Wenn in Deutschland Verteilungsfragen diskutiert werden, geht es zumeist um die Einkommensverteilung, und hier wird schnell Entwarnung gegeben, bewegt sich diese doch im europäischen Mittelfeld. Ganz anders sieht es bei der immensen Konzentration von Vermögen aus, die in Deutschland Spitzenwerte erzielt: Während die untere Hälfte der Bevölkerung so gut wie nichts besitzt, verfügt das reichste eine Prozent über ein Drittel der Vermögenswerte. Geht es um Umverteilung, geraten die Einkommenssteuersätze in den Blick, während Vermögen und Erbschaften gedeihen und wachsen.
Der Neoliberalismus hat die Umverteilung „von unten nach oben“ rechtlich und steuerpolitisch abgesichert
Bemerkenswert ist zudem, dass Umverteilung im politischen und alltäglichen Sprachgebrauch gleichbedeutend ist mit der Umverteilung zugunsten ökonomisch weniger Privilegierter, also einer Umverteilung „von oben nach unten“. Was dieser Fokus verdeckt, ja tabuisiert, ist die im Umfang wesentlich beträchtlichere, politisch orchestrierte Umverteilung in die entgegengesetzte Richtung, also „von unten nach oben“, die im Neoliberalismus rechtlich und steuerpolitisch abgesichert worden ist. Zu dieser Tabuisierung trägt auch die falsche Lesart neoliberaler Politik als anti-staatlich und deregulierend bei, die verkennt, dass wir es tatsächlich mit einer staatlichen Re-Regulierung zugunsten von Profit- und Vermögensinteressen zu tun haben. Die alltägliche Umverteilung von unten nach oben vollzieht sich neben dem Abbau von Arbeits- und Sozialrechten durch gezielte Steuersenkungen für Unternehmen und Besserverdienende sowie Subventionen, die diese privilegieren (Stichwort: Dienstwagenprivileg), aber auch durch Steuerentlastungen, die – wie die Erhöhung des Grundfreibetrags – allen zugutekommen, überproportional aber ebenfalls in den höheren Klassenlagen entlasten.
Auch Privatverschuldung in Form teurer Konsumkredite trägt zu dieser Dynamik bei, ebenso wie die Privatisierung des Öffentlichen mit ihren belastenden Effekten für einkommensschwächere Haushalte. Das tatsächlich verfügbare Einkommen von Haushalten hängt wesentlich davon ab, welche Bereiche der sozialen Daseinsvorsorge und Infrastruktur öffentlich organisiert und kostenfrei oder kostengünstig zur Verfügung gestellt werden – vor allem in den Bereichen Gesundheit und Pflege, Bildung und Kultur, Mobilität und Kommunikation. Der politisch und medial dominierende Blick auf Lohn(ersatz)einkommen verliert allzu oft die signifikant umverteilende Wirkung öffentlicher Angebote aus dem Blick, die ärmeren Haushalten überproportional zugutekommen. Diese sind es dann umgekehrt, die durch die Privatisierung öffentlicher Leistungen besonders benachteiligt werden.
In der Rentenversicherung findet eine fundamentale Umverteilung statt
Last but not least finden wir diese Dynamik der Umverteilung von unten nach oben sogar in den sozialen Sicherungssystemen wieder: Dass die Sozialversicherungen darauf angelegt sind, Sicherheit zu stiften, statt substanziell zugunsten der Einkommensschwächeren umzuverteilen, ist breit analysiert worden; nicht aber die de facto existierende, weitreichende Umverteilung in die andere Richtung: So findet aufgrund der erheblich klassenspezifischen Lebenserwartung in der Rentenversicherung eine fundamentale Umverteilung statt, da die Armen und Ressourcenschwachen, die im Durchschnitt mehrere Jahre früher versterben, mit ihren Beiträgen die Renten der langlebenden Privilegierten finanzieren. Obwohl Rentenanwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Eigentumsansprüche sind, sucht man in der Literatur und der breiten Öffentlichkeit vergeblich nach einer Skandalisierung dieser Form der Enteignung.
Feministische Wissenschaftler:innen weisen zudem seit langem darauf hin, dass die Ausbeutung von Lohnarbeit ‚nur‘ die Spitze des Eisbergs der alltäglichen Enteignung darstellt, die unter der Wasseroberfläche auf einem breiten Sockel unbezahlter beziehungsweise informeller Arbeit aufruht. Neben der Haus- und Sorgearbeit im Privathaushalt ist dies ein breites Spektrum nicht regulär entlohnter Tätigkeiten: vom zivilgesellschaftlichen Engagement und Freiwilligenarbeit über Nachbarschaftshilfe und unbezahlte Mehrarbeit im Erwerbsleben bis hin zu den an Bedeutung gewinnenden Aktivitäten von User:innen und Konsument:innen in digitalen Netzwerken, die unbezahlt zur Optimierung von Produkten und kommerziellen Angeboten beitragen und deren Daten gewinnbringend vermarktet werden.

Zur Person
Silke van Dyk ist Professorin für Politische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Co-Sprecherin des Sonderforschungsbereichs 294 „Strukturwandel des Eigentums“.
Diese heterogenen, nicht entschädigten und oft übersehenen Tätigkeiten tragen allesamt zu dem bei, was im Kapitalismus privatwirtschaftlich angeeignet wird. Sie müssen zunächst einmal sichtbar gemacht werden, um die normative Begründung einer Politik der Umverteilung ‚von oben nach unten‘ neu justieren und erweitern zu können: Nimmt man diese Perspektive ernst, geht es nicht mehr ausschließlich um eine (institutionalisierte) Solidaritätsverpflichtung der ‚Starken‘ gegenüber den ‚Schwachen‘, sondern um den gerechten Anteil der Vielen an den von ihnen geschaffenen Werten – und damit um eine Wiederaneignung.
Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty hat den unsichtbar gemachten kollektiven Anteil am privaten Eigentum wie folgt beschrieben: „Die Idee, es gebe strikt privates Eigentum und weiterhin Formen eines naturwüchsigen und unverbrüchlichen Anrechts bestimmter Personen auf bestimmte Güter, hält keiner Analyse stand. Akkumulation von Gütern ist stets Frucht eines sozialen Prozesses. Sie zehrt insbesondere von öffentlichen Infrastrukturen […], von sozialer Arbeitsteilung und von Erkenntnissen, die von der Menschheit in Jahrhunderten gesammelt wurden.“
Eine solche Perspektive kann nicht an den Grenzen nationaler Wohlfahrtsstaaten haltmachen
Historisch spielt diese Perspektive nicht nur bei Marx, sondern auch in der Tradition des Solidarismus eine zentrale Rolle, der Ende des 19. Jahrhunderts nach einem Mittelweg zwischen marktliberalen und sozialistisch-revolutionären Positionen suchte. Der Philosoph Alfred Fouillée prägte 1884 den Begriff des Sozialeigentums, um zu unterstreichen, dass dieses auf den Beitrag zahlreicher Menschen vieler Generationen zurückgeht. Es sei als Erbe aller Gesellschaftsmitglieder zu begreifen und könne zum Beispiel, so argumentierte Fouillée schon zu diesem frühen Zeitpunkt, zur Finanzierung eines universalen Versicherungssystems für alle Gesellschaftsmitglieder genutzt werden.
Aus heutiger Sicht zeigt dieser Fokus auf die Wiederaneignung des gerechten Anteils aber auch, dass eine solche Perspektive nicht an den Grenzen nationaler Wohlfahrtsstaaten haltmachen kann, bleibt damit doch die globale Dimension der ‚Akkumulation durch Enteignung’ unberücksichtigt. Darauf hat unter anderem Stephan Lessenich, der Leiter des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, hingewiesen.
Wo kann eine Politik gegen die alltägliche Enteignung ansetzen? Umfragen haben wiederholt ergeben, dass soziale Ungleichheit mehrheitlich problematisiert und ihre Zuspitzung besorgt beobachtet wird. Dennoch gilt bis heute die von dem Historiker Pierre Rosanvallon formulierte Diagnose, dass die Idee von sozialer Ungleichheit als Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität ebenso tief verankert ist wie die der Leistungsgerechtigkeit, mit der gerade Einkommensunterschiede legitimiert werden. Rosanvallon kommt angesichts dessen zu dem Schluss, dass die grundsätzliche Ablehnung großer sozialer Ungleichheit einhergeht „mit einer gewissen Akzeptanz der Mechanismen, die sie hervorbringen“. An diesem Spannungsverhältnis hat eine kritische Wissenschaft anzusetzen, denn eine empirisch fundierte Darlegung des Problems, verbunden mit Vorschlägen für konkrete Lösungen, ist augenscheinlich nicht ausreichend, um die beschriebene Diskrepanz von Problematisierung und Passivität zu überwinden.
Der Weg für eigentumskritische Alternativen ist derzeit steinig
In diesem Sinne ließe sich beispielsweise an der fest verankerten Leistungsorientierung ansetzen: Nicht, um sie in ihrer vorherrschenden, individualistischen Form zu bestätigen, sondern um für den gerechten Anteil der Anteillosen und ihren aktiven Beitrag am privat Angeeigneten zu sensibilisieren. Ebenso ließe sich die immense Vermögenskonzentration aus dieser Perspektive in den Fokus der öffentlichen Debatte rücken und aufzeigen, dass diese Ungleichheit wenig mit Leistung zu tun hat.
Auch die multiplen Krisendynamiken der Gegenwart bieten konkrete Ansatzpunkte für eine Politik, die öffentliche Alternativen zum Privateigentum stärkt: Pandemie, Klimawandel, Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Krieg und Inflation sensibilisieren auf ganz unterschiedlichen Ebenen für die fundamentale Infrastrukturbedürftigkeit der Gesellschaft – in der Gesundheits- und Pflegepolitik, in der Wohn- und Energiefrage, aber auch im Bildungsbereich. Das Beispiel des erfolgreichen Berliner Volksentscheids zur Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ zeigt, dass es gelingen kann, Mehrheiten für einen radikalen, die Eigentumsverhältnisse herausfordernden Politikwechsel zu gewinnen – auch wenn der politische Umgang mit dem Volksentscheid zeigt, wie steinig der Weg für eigentumskritische Alternativen derzeit ist.
Dieser Text ist ein leicht überarbeiteter Auszug aus einem Beitrag in der österreichischen Zeitschrift „Kurswechsel“ (Heft 3/2022, Seite 9-21). www.kurswechsel.at