Das tägliche Grauen

Seit zehn Jahren bekämpft Oberstaatsanwalt Vogt Kinderpornographie - doch gegen die wachsende Bilderflut ist er machtlos. Von Jörg Schindler
Von JÖRG SCHINDLER
Es gibt Dinge, die hat auch Peter Vogt noch nicht erlebt. Er sitzt jetzt wieder am Telefon, es ist eine Woche her, dass im Maßregelvollzug von Uchtspringe DVDs entdeckt wurden, auf denen unter anderem die Vergewaltigung eines Zehnjährigen zu sehen ist. Nach zwei Razzien zeigt sich allmählich, dass da offenbar verurteilte Pädophile und Freigänger einen florierenden Handel mit Kinderpornographie betrieben haben. Von "körbeweise DVDs" spricht Vogt an der Strippe, dann gibt er kurze Anweisungen und legt er auf. "Der blanke Horror", sagt er.
Dabei ist es nicht so, dass Peter Vogt zu Übertreibungen neigt. Wenn der Oberstaatsanwalt von seinem beruflichen Alltag erzählt, verpackt er das Grauen in sachliche Worte. Dann berichtet er nüchtern von zugenähten Vaginen, von Analverkehr auf dem Wickeltisch, von Männern, die den natürlichen Saugreflex von Säuglingen für ihre perversen Phantasien ausnutzen. "Ich muss damit umgehen", sagt Vogt. Er muss es seit Jahren schon, und keine Ende in Sicht.
Vor zehn Jahren hat der heute 51-Jährige in Halle an der Saale die Zentralstelle zur Bekämpfung von Kinderpornographie aufgebaut. 47 "Kipo"-Fälle landeten im ersten Jahr auf seinem Schreibtisch, 2007 waren es 892. Die Opfer, sagt Vogt, werden immer jünger. Die Täter offenbar auch. Inzwischen haben die Hallenser schon 14- und 15-Jährige in ihrer Datei. Dort lagern auch 16 Millionen Bilder, die Vogt und sein kleiner Trupp einzeln auswerten müssen. Wie lange das dauern wird, weiß kein Mensch.
Als Vogt 1998 anfing, dachte er noch, er könne das Problem in den Griff kriegen. Damals begann die Pädophilenszene, die Möglichkeiten des Internets für sich zu entdecken. Weil sich viele in der vermeintlichen Anonymität des Netzes sicher wähnten, schickten sie ihre Bilder kaum verschlüsselt um die Welt. Das führte zu einigen spektakulären Erfolgen wie der "Operation Marcy", in deren Verlauf Vogt 26 000 Tatverdächtige ermittelte. Den Drahtzieher, Marcel K., hatten die Hallenser zuvor in Magdeburg erwischt.
Inzwischen aber, sagt Vogt, sei das gewaltige Geschäft mit der Kinderpornographie längst in "mafiöse Strukturen" übergegangen. Zwar gebe es noch immer geschätzte 150 000 Newsgroups, in denen Pädokriminelle Bilder tauschen. Das eigentliche Geschäft aber machten kommerzielle Anbieter, vor allem aus Osteuropa. "RNB", sagt Vogt - "Russian Business Network". "Die haben ihre Finger überall drin, wo es das große Geld zu machen gibt."
70 bis 100 US-Dollar muss zahlen, wer einen Monat lang freien Zugang zu härtester Kinderpornographie haben will. Niemand weiß, wie viele Millionen die russische Mafia damit scheffelt. Vogt hat eine Ahnung. Aus einem Stapel roter Akten zieht er eine CD mit den Zahlen eines früheren Falls: 25000 Beschuldigte aus 177 Staaten, die insgesamt 47 000 Kreditkartenabbuchungen vornahmen. Eine zweistellige Millionensumme kam so zusammen, dabei waren nur hundert Internetseiten im Spiel. Experten schätzen, dass es mittlerweile zwölf bis 20 Millionen Webseiten mit kinderpornographischem Inhalt gibt.
Die Fahnder mühen sich. Aber gegen die nie versiegende Bilderflut und den kriminellen Eifer der Szene sind sie anscheinend machtlos. Bei Interpol sind heute 20 000 Kinder bekannt, die brutal missbraucht wurden. Gerade mal 600 von ihnen konnten bis heute identifiziert werden. Und aus Asien, Brasilien, vor allem aber Osteuropa kommt Nachwuchs.
Vogt sagt denn auch: "Wir haben den Kampf verloren." Daran änderten auch große Erfolge nichts wie jüngst die "Operation Data", bei der Vogts Bonner Kollegen 518 Verdächtige ins Netz gingen. Der Markt sei zu lukrativ, sagt Vogt, die Täter zu skrupellos. Und sie sind überall: in allen Schichten, in jedem Alter. Vogt hat Jugendrichter und Staatsanwälte erwischt und immer wieder Priester. Einmal hat er sogar sieben Computeranschlüsse in Vatikanstadt ausfindig gemacht - auf seine Anfrage erhielt er nie eine Antwort.
All diesen Zerstörern von Kinderseelen werde man das Handwerk nicht legen können, da ist sich Vogt sicher. Auch nicht durch das gesetzliche Sperren von Seiten, wie es Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) fordert. "Täter brauchen auf ihren Rechnern 60 Sekunden, bis sie wieder da sind, wo sie nicht sein dürfen", sagt Vogt müde. Das heiße nicht, dass man den Kampf einstellen solle, betont der Oberstaatsanwalt. Aber man sollte ihn realistisch betrachten und dort ansetzen, wo er lohne. Zum Beispiel bei der Strafe für den Besitz von Kinderpornographie: Sie liegt bei höchstens zwei Jahren - drei Jahre unter der Maximalstrafe für Ladendiebstahl. "Der Gesellschaft", sagt dazu Vogt, "scheint eine Tafel Schokolade wichtiger zu sein, als das körperliche Wohl ihrer Kinder."
Dann steht er wieder auf und läuft zu seinem "Giftschrank", in dem er die entsetzlichen Beweise aus zehn Jahren Arbeit gesammelt hat. Der Schrank steht seltsam schief in der Ecke des Raumes. "Er ist unter der Last zusammengebrochen", sagt Vogt. Er wird bald einen neuen brauchen.