Nein. Die Diskussion ist zwar richtig und wichtig. Aber es ist so, als würde man einem Krebskranken ein neues Pflaster aufkleben. Wir haben jetzt 21 Jahre Erfahrung mit dem Transplantationsgesetz. Die Bilanz ist katastrophal. Vor dem Inkrafttreten des Gesetzes gab es in Deutschland wie in Spanien 16 Spender pro eine Million Einwohner pro Jahr. Heute haben wir neun, Spanien hat 40. Bei uns sterben Menschen auf der Warteliste, die in anderen Ländern überleben würden. Das Transplantationssystem wurde in zwei Jahrzehnten komplett gegen die Wand gefahren.
Wo liegen die Probleme?
Anderes als in Spanien und anderen europäischen Staaten, in denen die Organspende funktioniert, war der deutsche Gesetzgeber nie bereit, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Der Bundestag hat die Entscheidungen einfach auf Bundesärztekammer, Kassen und Kliniken abgeschoben und sie ermächtigt, alle Regelungen unter sich auszumachen. Das ist gründlich schiefgegangen. Es herrschen Willkür und Intransparenz, es gibt keine Aufsicht, keine Kontrolle. Für die Betroffenen ist es praktisch unmöglich, Rechtsschutz zu suchen. Das alles hat das Vertrauen der Bevölkerung nachhaltig untergraben.
Im Gesundheitswesen ist es üblich, die sogenannte Selbstverwaltung mit der Umsetzung von Gesetzen zu beauftragen. Warum war das bei der Organspende und -verteilung nicht berechtigt?
Die Frage, wer weiterleben kann, weil er ein Organ bekommt, und wer nicht weiterleben darf, weil er keines erhält, ist eine der fürchterlichsten Entscheidungen, die in Friedenszeiten zu treffen ist. Nach dem Grundgesetz kann sie deshalb nur der Bundestag verantworten. Doch die Parteien haben sich immer vor dieser Entscheidung gedrückt, schließlich kann man damit auch keine Punkte beim Wähler machen. Niemand will sich die Finger verbrennen. In anderen Ländern haben sich die Politiker ihrer Verantwortung gestellt und die Grundregeln der Organverteilung bestimmt.
Um welche Grundregeln muss es gehen?
Der Bundestag hat die beiden zentralen Kriterien Dringlichkeit und Erfolgsaussicht nur benannt, aber nicht gewichtet. Das ist jedoch notwendig, denn diese Ziele widersprechen einander fundamental. Wer schon in Lebensgefahr schwebt, wird auch mit einem neuen Organ vielleicht nicht lange überleben. Der, dem es noch gut geht, hätte aber möglicherweise durch eine rasche Transplantation ein längeres Leben vor sich. Der Bundestag hat diese Entscheidung über Leben und Tod einfach der Bundesärztekammer überlassen, der dafür jedoch die demokratische Legitimation fehlt. Jetzt machen die Ärzte, was sie wollen.
Was meinen Sie?
Ein Beispiel: Bei der Leber galt früher, dass das Kriterium der Erfolgsaussicht bei einer Transplantation höher gewichtet wurde als das der Dringlichkeit. Heute ist es umgekehrt. Es ist inakzeptabel, dass das in den Hinterzimmern von Ärztefunktionären ausgekungelt wird.
Umstritten ist auch die Regelung, wonach ein Alkoholiker nur dann auf die Warteliste für eine Lebertransplantation kommt, wenn er mindestens sechs Monate trocken ist.
Dies ist völlig willkürlich und ohne jede medizinische Grundlage. Alkoholkranke werden damit pauschal als unwertes Leben abgestempelt. Für sie ist das oft ein Todesurteil. Willkür in Fragen von Leben und Tod darf der Rechtsstaat nicht zulassen. Dass diese Diskriminierung von Alkoholkranken gesetzes- und verfassungswidrig ist, hat der Bundesgerichtshof im Übrigen im Fall des Göttinger Arztes bestätigt, der Alkoholkranke gegen die Richtlinien auf die Warteliste gesetzt hatte. Er hätte dafür eine Medaille bekommen müssen, kein Strafverfahren.
Und was stimmt an den Strukturen nicht?
Alle Beteiligten, die Bundesärztekammer, die Stiftung Organtransplantation oder Eurotransplant, verfolgen nur ihre eigenen Interessen. Es herrscht organisierte Verantwortungslosigkeit, auch im zuständigen Ministerium. In allen Ländern mit hohen Spenderzahlen wird das Transplantationswesen zentral durch eine staatliche Stelle gesteuert, die die Verantwortung trägt und das System fortwährend weiterentwickelt. Unser System ist dagegen komplett lernunfähig. Wir brauchen ein Bundesinstitut, das nach Regeln arbeitet, die das Parlament festlegt hat. Ich kann nur hoffen, dass der Bundestag die von Gesundheitsminister Spahn angestoßene Debatte nutzt, um eine grundlegende Reform auf den Weg zu bringen.
Damit sind wir wieder bei der von Spahn vorgeschlagenen Widerspruchslösung. Teilen Sie die Ansicht von Kritikern, das sei verfassungswidrig?
Nein. In unserem Rechtsstaat gibt es eine minimale Solidaritätspflicht auch unter Fremden. Wenn sie einen Unfall bemerken und nicht helfen, können sie wegen unterlassener Hilfeleistung sogar bestraft werden. Daraus kann nicht abgeleitet werden, dass jeder Organspender werden muss. Die Solidaritätspflicht verlangt aber, sich zumindest mit der Frage einer Spende auseinanderzusetzen. Deshalb ist jedem zuzumuten, einen Widerspruch zu erklären, wenn er eine Organspende, aus welchen Gründen auch immer, ablehnt. Auch das Bundesverfassungsgericht sah 1999 deshalb bei einer Widerspruchslösung keine Verletzung von Grundrechten.
Sie sind also für die Einführung?
Ich würde das sehr begrüßen. Die Alternative wäre eine verpflichtende Entscheidungslösung, bei der die Bürger regelmäßig gefragt werden. Sie ist allerdings wesentlich aufwendiger und damit teurer. Aber wie gesagt, ohne grundlegende Reform wäre das alles nur ein neues Pflaster für einen Krebskranken.
Interview: Timot Szent-Ivanyi