Feministische Politik in Deutschland: „Frauen müssen sichtbarer werden“

Svenja Schulze stellt im Interview ihre Afrika-Strategie vor. Ihr Ziel: mehr Rechte, mehr Ressourcen und mehr Repräsentanz für Frauen.
Frau Schulze, was ist für Sie gute Entwicklungspolitik?
Eine Politik, die bei den Menschen ankommt und etwas an den Strukturen verändert. Es hat ja Ursachen, dass es den Partnerländern, mit denen wir zusammenarbeiten, nicht gut geht. Mir ist wichtig, bei diesen Problemen anzusetzen – was auch heißt, die Machtverhältnisse anzugehen.
Im Koalitionsvertrag verpflichtet sich die Ampel auf eine feministische Außen- und Sicherheitspolitik. Nun haben Sie eine feministische Entwicklungspolitik als Teil Ihrer neuen „Afrika-Strategie“ verkündet. Weil Afrika der Kontinent der Zukunft ist?
Wir machen Entwicklungspolitik mit dem Globalen Süden, aber Afrika ist ein großer Schwerpunkt. In Europa wird der afrikanische Kontinent noch immer sehr unterschätzt. Es wird nach wie vor so getan, als gäbe es ein einheitliches Afrika. Dabei sind die Länder extrem unterschiedlich – auch in ihrem Entwicklungsstand. Dort leben nicht nur arme, hilfsbedürftige Menschen, da gibt es sehr viele junge Leute, die gute Ideen haben und etwas voranbringen. Afrika ist ein Gravitationszentrum. Ein sehr junger, stark wachsender Kontinent mit einem hohen Potenzial und einer großen innovativen Gestaltungskraft. Wie respektvoll wir heute mit den Menschen dort umgehen, wird auch darüber entscheiden, wie sie uns in Zukunft begegnen.
China, Russland, die USA, die Türkei – all diese Staaten versuchen, ihren strategischen Einfluss in Afrika auszubauen. Dabei geht es nicht um Respekt, sondern um den Zugang zu Ressourcen. Und jetzt kommt die Bundesregierung und will alles anders machen?
Ja, wir wollen es tatsächlich anders machen. China und Russland forcieren eine Zusammenarbeit, die auf eine starke Abhängigkeit der Partnerländer hinausläuft. Das ist den afrikanischen Regierungen inzwischen sehr bewusst. Der europäische Ansatz bietet ein anderes Entwicklungsmodell. Auch wir wollen Rohstoffe und Arbeitskräfte, aber auf Grundlage einer fairen Kooperation.
Feministische Politik: In der Entwicklungszusammenarbeit entstehen Win-win-win-Situationen
Und das heißt was?
Ein Beispiel: Es gibt ein gemeinsames Projekt mit Tunesien. Junge Menschen von dort werden bei der Deutschen Bahn ausgebildet – denn die Bahn braucht ja dringend Fachkräfte. Wir bilden aber auch in Tunesien selbst aus und haben deshalb im Land eine Arbeitsagentur aufgebaut, die vor Ort beraten kann. Es ist eine Win-win-win-Situation: Tunesien gewinnt, wir gewinnen Fachkräfte und die jungen Leute gewinnen eine Perspektive. Unter respektvollem Umgang miteinander stelle ich mir genau solche Kooperationen vor.
Auch wenn es um die Ausbeutung von Rohstoffen geht?
Selbstverständlich wollen wir auch Ressourcen nutzen, aber anders als bisher. Die ersten Produktionsstufen sollen in den Ländern selbst entstehen, die Umwelt darf beim Abbau der Rohstoffe nicht vernichtet werden und die Leute sollen eine faire Bezahlung bekommen. Es läuft nicht mehr nach dem Motto: Reicht uns mal eure Rohstoffe rüber, aber bleibt auf der Entwicklungsstufe stehen, auf der ihr seid.
Und die deutsche Wirtschaft freut sich über den neuen Wind?
Möglichst günstig Rohstoffe aus den Ländern herauszuholen, dann hier zu veredeln und teuer zu verkaufen – dass dieses Modell nicht mehr funktioniert, weiß auch die Wirtschaft. Die Länder lassen sich nicht länger ausbeuten, sie wollen eine Perspektive. Schon deshalb müssen wir die Ziele der „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ umsetzen, die die UN 2015 verabschiedet hat.
Feministische Politik: Auch unter schwierigen Bedingungen sollen Nachhaltigkeitsziele verfolgt werden
Und was sagen Sie den Schurkenstaaten in der Region, die eine nachhaltige Entwicklung gar nicht wollen?
Klar, das geht nicht mit allen Regierungen. In solchen Ländern haben wir aber oftmals die Chance, mit der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten: Demokratie und Meinungsfreiheit zu stärken, Gewerkschaften und damit Arbeitnehmerrechte zu unterstützen. Auch unter schwierigsten Bedingungen lassen sich Nachhaltigkeitsziele verfolgen. Selbst in Afghanistan können wir noch in einigen Bereichen arbeiten.
Und die Zielländer glauben Ihnen, wenn Sie von „Respekt und Fairness“ in Ihrer neuen Afrika-Strategie sprechen?
So ist es, und das freut mich sehr! Wir haben diese Strategie ja mit Afrikanerinnen und Afrikanern entwickelt und nicht über deren Köpfe hinweg. Ahunna Ezikonwa, Regionaldirektorin für Afrika bei der UN-Entwicklungsorganisation hat unsere neue Afrika-Strategie als „decolonization of development“ bezeichnet, also als eine „Entkolonialisierung von Entwicklung“. Wir machen einerseits, was von den Zielländern gewünscht wird, setzen aber auch eigene Prioritäten. Bei der Armutsbekämpfung, dem Gesundheitssystem, beim Klimaschutz und der feministischen Politik. Denn wenn sich ein Land entwickeln soll, kann man ja nicht auf die Hälfte der Bevölkerung verzichten.
Frauen haben Power, sie können etwas bewegen, auf dieses Potenzial darf man nicht verzichten. Da setze ich mit meiner Politik an.
Feministische Politik: Frauen müssen an Entscheidungsprozessen beteiligt werden
Gesellschaften mit weitgehender Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern sind sicherer, stabiler, friedlicher und wirtschaftlich erfolgreicher. Das scheint der größte Teil der Welt noch nicht begriffen zu haben.
Frauen haben Power, sie können etwas bewegen, auf dieses Potenzial darf man nicht verzichten. Da setze ich mit meiner Politik an. Mich ärgert es, wie häufig Frauen nur als arme Opfer gesehen werden. Damit sich die Verhältnisse ändern, müssen Frauen sichtbarer werden, sie müssen beteiligt sein und mitsprechen können. Auch bei Friedensprozessen. Insgesamt geht es um mehr Repräsentanz, mehr Rechte und mehr Ressourcen für Frauen. Das durchzusetzen ist natürlich nicht einfach ...
... schließlich geht es um Macht und Verteilungskämpfe ...
Genau! Zudem hat das einmal Erreichte ja nicht immer Bestand. Ich war gerade in Brasilien und es hat mich echt geschockt, was sechs Jahre Bolsonaro-Regierung alles kaputt gemacht haben. Bolsonaro hat die Statistik zur Gewalt gegen Frauen abgeschafft, die Polizeistationen geschlossen, in denen eigens ausgebildete Polizistinnen Opfer beraten haben, eine entsprechende Hotline ist nicht mehr zugänglich und die Gelder in diesem Bereich wurden gestrichen. In sechs Jahren ist die ganze Hilfsstruktur für Frauen zusammengebrochen und damit war das Thema auch weg aus der Öffentlichkeit.
In der „UN-Agenda für nachhaltige Entwicklung“ ist eines der 17 Ziele, jegliche Diskriminierung von Frauen und Mädchen zu beenden. Und zwar bis zum Jahr 2030. Wo stehen wir denn da weltweit?
Bei den meisten 2030-Zielen sind wir zurückgefallen. Corona hat die Frauenarbeitslosigkeit erhöht und die klassischen Strukturen wiederbelebt, in denen Frauen wieder allein für Kinder und Pflege verantwortlich sein sollen. Sehr viele Mädchen wurden vom Schulbesuch ausgeschlossen. Corona war ein Schlag gegen Frauenrechte. Um so wichtiger ist, bei der Halbzeitbilanz der UN-Agenda zu schauen, dass wir unsere Anstrengungen wieder erhöhen, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.
Inwieweit kann Nachhaltigkeit durch eine feministische Entwicklungspolitik vorangebracht werden?
Man muss auf verschiedenen Ebenen ansetzen: Auf der ersten geht es hier bei uns im Ministerium um Sensibilisierung und Schulung. Es macht einen Unterschied, ob ich bei Projekten die Gleichstellung von Frauen im Blick habe oder nicht. Diese Wahrnehmung ist ja nicht selbstverständlich. Die zweite Ebene sind unsere bilateralen Projekte mit den Partnerländern und die dritte sind Netzwerke auf internationaler Ebene.
Zur Person
Svenja Schulze , SPD, ist seit 2022 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Kabinett Scholz. Zuvor war sie in der Großen Koalition Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Sie stammt aus Nordrhein-Westfalen und war dort Wissenschaftsministerin und Generalsekretärin der NRW-SPD. (bm)
Feministische Politik: Frauenrechte sollen bei Projekten ins Zentrum gerückt werden
Wie viele Ihrer Programme verdienen das Label „feministische Entwicklungspolitik“?
Hier im Haus habe ich die Zielzahl gesetzt, dass bis zum Ende der Legislatur 93 Prozent unserer Projekte der Gleichstellung dienen sollen, direkt oder indirekt. Derzeit sind es 64 Prozent. Diese Zahlen sind nicht aus der Luft gegriffen: Wir haben errechnet, welche Projekte wir haben, welche neuen hinzukommen und wie wir im Sinne einer feministischen Politik umsteuern können. Die Rechte von Frauen zu stärken, ist dabei zentral – das Recht auf Selbstbestimmung, das Klagerecht, das Recht auf Land und Bildung. Frauen haben ja oft nicht einmal das elementare Recht, ihren Partner selbst zu wählen und zu entscheiden, mit wem sie Kinder haben wollen.
Haben Sie ein Lieblingsprojekt?
In Ghana, im Senegal und in Äthiopien unterstützen wir die Kampagne „Stand for her land“. Die finde ich toll. Dabei geht es um Frauenlandrechte. Frauen leisten einen großen Teil der Arbeit in der Landwirtschaft, aber der Boden, den sie bewirtschaften, gehört ihnen nur zu 15 Prozent. Gibt es dann eine Flut- oder Dürrekatastrophe, bekommen sie, um die Äcker wieder bestellen zu können, keinerlei Kredite – denn der Boden gehört ihnen ja nicht. Das will die Kampagne ändern und die Landrechte von Frauen durchsetzen.
Und wie steht es um Mikrokredite für Frauen?
Gründerinnenkredite sind ganz ganz wichtig. Frauen haben oft größere Probleme, einen Kredit zu erhalten als Männer. Laut Weltbank fließen in Afrika für jeden Dollar in frauengeführte Gründungsteams 25 Dollar in männergeführte Teams. Gleichzeitig brauchen sie oft viel kleinere Summen für die Existenzgründung. Zudem sind ihre Unternehmungen nachhaltiger und mit positiven Wirkungen für das gesamte Umfeld. Deshalb richten wir unsere Unterstützung auch auf frauengeführte Unternehmen aus.
Zur Diskriminierung von Frauen gehört auch immer Gewalt. Nun gibt es seit Jahren die „Istanbul-Konvention“, die Frauen und Mädchen mit ganz konkreten Maßnahmen auf staatlicher Ebene schützen will. Doch statt dass immer mehr Länder der Konvention beitreten, wollen einige sogar schon wieder raus. Woher nehmen Sie den Glauben, dass eine feministische Entwicklungspolitik hier erfolgreicher ist?
Zum Optimismus gibt es keine vernünftige Alternative. Dennoch habe ich nicht die Hoffnung, dass sich die Ziele der Istanbul-Konvention von alleine erfüllen, nur weil sie vernünftig sind. Gerade deshalb und weil die Situation so schwierig ist, müssen die großen Geberländer in der Entwicklungspolitik immer wieder darauf pochen, dass der Schutz von Frauen und Mädchen einer der Werte ist, auf die wir uns bei der Agenda 2030 geeinigt haben. Das ist nichts westlich-kolonialistisches, sondern ein Menschenrecht! Und ich will, dass darüber gesprochen wird und dieses Recht verstärkt in den Fokus rückt.
Viele Länder in Afrika sind noch immer extrem patriarchal geprägt ...
... absolut.
Feministische Politik: Die Bewegungen müssen aus den Ländern selbst kommen
Wie soll man den dortigen Männergesellschaften klarmachen, dass sie durch Gleichberechtigung am Ende gewinnen?
Das funktioniert nur über Projekte, mit denen wir genau das zeigen. Allerdings können wir diesen Kampf nicht stellvertretend für die betroffenen Frauen führen, die Bewegungen müssen aus den Ländern selbst kommen. Aber mit unserer Arbeit können wir helfen, dass solche Bewegungen entstehen, dass Veränderungen in diesen Gesellschaften vorangebracht werden. Und bei Regierungsverhandlungen mache ich die Erfahrung, dass die Partner unseren Argumenten nichts entgegenzusetzen haben. Solche Prozesse sind nicht morgen abgeschlossen, aber das ist bei der Entwicklungsarbeit ja immer so.
Was können wir hierzulande tun, um eine feministische Entwicklungspolitik und damit die Frauen im globalen Süden zu unterstützen?
Jede und jeder kann auf die Lieferketten achten. Wie kaufen wir ein? Den Frauen in Bangladesch ist eine Menge geholfen, wenn wir uns für nachhaltige Textilien entscheiden, die unter fairen Arbeitsbedingungen hergestellt werden. Diese Produkte kosten nur wenig mehr, aber es macht sehr viel aus, ob zum Beispiel diese Näherinnen einen existenzsichernden Lohn bekommen oder nicht.
Interview: Bascha Mika