Sündenböcke für politisches Versagen

Im Libanon nehmen anti-syrische Ressentiments und Gewalttaten zu. Die Politik nutzt den Rassismus für ihre Zwecke. Von Hanna Davis und Philippe Pernot.
In Mohammad Amros Supermarkt ist der Boden immer noch blutverschmiert und das Dach von zwei Einschusslöchern durchbohrt – die Spuren eines brutalen Angriffs auf seine zwei Söhne am letzten Tag des Zuckerfestes. Der Frieden der libanesischen Kleinstadt Nahr Ibrahim wurde am 23. April just gestört, als eine Gruppe bewaffneter Männer vor dem Laden einen unbekannten syrischen Passanten angriff.
Die zwei Brüder, Sajed (13) und Yousef (18), halfen gerade im Geschäft ihres Vaters aus, als sie Zeugen des Angriffs wurden. „Mein Bruder hat die Szene einfach nur beobachtet, ohne etwas zu tun, dann sind 20 Männer in den Laden eingedrungen“, erinnert sich Sajed. „Sie haben uns mit Messern attackiert und mit Pistolen in die Menge geschossen“. Sajeds Hinterkopf ziert Wochen später immer noch eine große Narbe, das Messer verfehlte sein Gehirn um nur wenige Millimeter.
Die Angreifergruppe bestand aus zwei Polizisten und einigen Bürgern, die angaben, für die Stadtverwaltung von Nahr Ibrahim tätig zu sein. Zur Rechtfertigung der Messerstecherei behaupteten die Männer vor Gericht, dass sie die beiden Jungen für Syrer gehalten hätten.
Am Abend des Angriffs seien die Männer angeblich geschickt worden, um „Syrer im Zaum zu halten, die in der Gegend Probleme verursachten“, sagt der Hauptverwaltungsbeamte im Gemeindeamt, Nizar Daccache. Seit sechs Monaten gilt in der Stadt eine für 21 Uhr verhängte Ausgangssperre, die darauf abzielt, „die Kontrolle von Syrern in der Stadt zu vereinfachen“, sagt er. Wie auch Daccache seien die Angreifer von der angeblichen „Anhäufung illegaler Verhalten“ der Geflüchteten frustriert gewesen.
„Aber auch wenn meine Söhne syrisch gewesen wären, hätten diese Männer kein Recht darauf, sie anzugreifen“, widerspricht ihr Vater Mohammad Amro. Die Angreifer hätten im vergangenen Monat ihr aggressives Verhalten in der Nähe syrisch-geführter Geschäfte der Stadt verstärkt, meinen Anwohner:innen – bestärkt von einer landesweiten Welle von flüchtlingsfeindlicher Rhetorik.
Die Geflüchteten würden „Chaos verursachen“ und „den Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt beeinträchtigen“, so der Vorwurf Daccaches und vieler Libanes:innen. Weite Teile der Bevölkerung machen die Syrer:innen für die wirtschaftliche Misere des Landes verantwortlich – der Libanon befindet sich in einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen weltweit, die mehr als 82 Prozent der Bevölkerung in die Armut gestürzt hat.
„Es ist offensichtlich, dass die Syrer nicht für die Krise verantwortlich sind, aber ihre Anwesenheit verstärkt sie zumindest“, berichtet Sami Nader, Direktor des Levant Institute of Strategic Affairs. „Je länger die Krise anhält, desto schwieriger wird es für viele Libanesen, die Präsenz der Geflüchteten zu ertragen.“
Die Ressentiments werden aber nicht nur von verzweifelten Bürger:innen geschürt – sondern auch von denselben politischen Eliten, die den Libanon in die Inflationsspirale geführt haben. Das Thema wird von den politischen Parteien „instrumentalisiert“, so Nader. „Gerade jetzt ist das Timing wichtig, weil sie um den Sitz des Präsidenten wetteifern“. Das Land befindet sich seit Oktober in einem exekutiven Vakuum, während Saudi-Arabien, der Iran, Frankreich und andere Mächte versuchen, sich auf einen Präsidenten zu einigen. „In dem Kontext sind Syrer Sündenböcke, die das Versagen der Politik bei kritischen Reformen vergessen lassen“, sagt Nader.
Die libanesische Regierung hat im vergangenen Monat eine Reihe restriktiver Schritte für die rund 1,5 Millionen Syrer:innen beschlossen, die sich ihrer Schätzung nach im Land aufhalten. Mindestens 168 Syrer:innen wurden seitdem von der libanesischen Armee deportiert, so ein Bericht des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (SNHR). Die Regierung führt zusätzlich eine sogenannte Kampagne zur „freiwilligen Rückkehr“ weiter fort. Razzien in Flüchtlingslagern und Visumsverweigerungen sollen syrische Geflüchtete zur Rückkehr in ihr verwüstetes Heimatland bewegen.
„Das ist eine klare Verletzung des Völkerrechts“, betont Fadel Fakih, Leiter des libanesischen Zentrums für Menschenrechte. Es gäbe in letzter Zeit eine Zunahme der Rechtsverletzungen gegenüber Syrer:innen. Dabei diskriminiere das libanesische Rechtssystem sie bereits „ganz offensichtlich“. Auch in Nahr Ibrahim wurden die Angreifer nach einem kurzen Aufenthalt in Polizeigewahrsam entlassen – ohne weitere Strafen. Einer der Täter veranstaltete anschließend sogar eine Feier in Anwesenheit des Bürgermeisters. „Er wird als Held bezeichnet,“ seufzt Mohammad Amro.
In dieser Atmosphäre der Straflosigkeit ist die Angst unter den Ladenbesitzer:innen und Anwohner:innen in Nahr Ibrahim gestiegen. „Die Situation ist angespannter als zuvor, denn viele syrische Mitarbeiter befürchten, abgeschoben zu werden“, sagt Hani, ein junger Ladeninhaber, der 2016 aus Aleppo in den Libanon geflohen ist. „Jetzt ist die Marktstraße fast leer“, fügt Hani hinzu, „weil die Menschen vor der Angreifergruppe Angst haben“. Das bekräftigt auch ein anonymer libanesischer Anwohner. „Ich fühle mich unsicher bei dem, was hier passiert, vor allem, weil sie mit Gewehren umherlaufen“, sagt er. „Niemand beschützt uns – weder die Syrer noch Bürger wie mich“. mitarbeit: rayanne tawil
