„Erdogan wird von dieser Pole-Position starten und seinen Amtsbonus nutzen“

Bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei geht es in die zweite Runde. Ein Experte skizziert Erdogans Strategie der kommenden Wochen – und fürchtet um die kurdische Minderheit.
Istanbul/Ankara/Köln – Hinter der Türkei liegt ein nervenaufreibender Wahlkampf. Doch es ist noch nicht zu Ende. Im Rennen um das Präsidialamt verfehlten sowohl Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan (49,40 Prozent) als auch Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu (45 Prozent) die absolute Mehrheit. Jetzt geht es am 28. Mai in die Stichwahl. Ausgerechnet dem ultranationalistischen Kandidaten und Drittplatzierten Sinan Oğan (5,2 Prozent) könnte dabei eine entscheidende Rolle zukommen. Das Zünglein an der Waage für den Wahlausgang ist unter anderem seine Wähler:innenschaft.
Auch wenn das Oppositionsbündnis geschafft hat, was bislang nicht gelang – Erdogan erstmals in eine Stichwahl zu zwingen – der große Erfolg blieb aus. Nun heißt es Bangen. Und das, obwohl Umfragen vorab der Allianz aus sechs Parteien – von der sozialdemokratischen CHP Kılıçdaroğlus bis zu nationalistischen Kräften – gute Aussichten gegen den Dauermachthaber vorhergesagt hatten. Auch der Rückzug eines weiteren Kandidaten aus dem Wahlkampf hatte die Chance auf ein eindeutiges Ergebnis im ersten Wahldurchgang erhöht. Jetzt die Stichwahl. Dem Ausgang der Türkei-Wahl wird national und international große Bedeutung beigemessen. Sollte Erdogan Präsident bleiben, dürfte sich das Land unter ihm weiter in Richtung eines autokratischen Systems entwickeln.
Türkei-Wahl: Erdogan fährt Teilsieg ein – Ultranationalisten Sinan Oğan kommt besondere Rolle zu
Die kurze und aufreibende Wahl-Nacht ist Burak Copur, einem profunden Kenner der Türkei, deutlich anzumerken. Der Politikwissenschaftler aus Essen prophezeit harte Wochen für das Oppositionsbündnis. „Es ist ein Teilsieg für Präsident Erdogan, der die Präsidentschaftswahlen zwar nicht im ersten Durchgang für sich entscheiden konnte, aber als stärkster Kandidat hervorgeht“, sagt Copur der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA. „Erdogan wird von dieser Pole-Position starten und seinen Amtsbonus nutzen, um die Stimmen der Rechtsnationalisten unter Sinan Oğan für sich zu gewinnen“, führt der Experte weiter aus.
Klarer Sieger des Abends seien daher bereits jetzt der türkische Nationalismus, Rechtsextremismus und Islamismus. Erdogan werde versuchen, attraktive Angebote zu machen, um die Ultranationalisten für ein Bündnis zu gewinnen. Bislang hat der Drittplatzierte Oğan keine Angaben gemacht, welche Seite er zu unterstützen gedenkt. Erdogan und die Herausforderer des Oppositionsbündnisses werden ihn folglich in den kommenden Wochen umwerben müssen.
Erdogan erneut als Präsident: Weitreichende Folgen für kurdische Minderheit in der Türkei
Dass seine AKP die Mehrheit im Parlament behalten dürfte, spielt Erdogan im Wahlkampf bis zur Stichwahl in die Karten. So gab er sich überzeugt, dass die Wähler:innen „Sicherheit und Stabilität“ bevorzugen würden. Eine Anspielung darauf, dass sich Parlament und Präsident theoretisch blockieren könnten, sollte die Mehrheit der Abgeordneten an die Regierungsallianz fallen, das Präsidentenamt aber an die Opposition oder umgekehrt. Experte Burak Copur sieht darin eine vielversprechende Strategie Erdogans. Das Narrativ, um weitere Stimmen zu gewinnen: gegensätzlich agierende Machtpole als schlecht für die politische Entwicklung der Türkei darzustellen. „Erdogan wird in den nächsten zwei Wochen die Karte der Führung aus einem Guss spielen“, sagt der Politikwissenschaftler.
Sollte Recep Tayyip Erdogan tatsächlich im Amt bleiben, hätte das weitreichende Folgen für die türkische Innenpolitik. Aber auch für die internationale Gemeinschaft. „Außenpolitisch bedeutet das: mehr Russland, weniger Westen“, so Copur. Er rechnet in diesem Fall mit einem „Weiter so“, mit nationalistischen, rechtsextremistischen und islamistischen Tendenzen. Das hätte insbesondere für die Kurd:innen in der Türkei weitreichende Folgen. Burak Copur ist überzeugt: Eine Koalition Erdogans mit dem rechtsextremistischen Bündnis würde die kurdische Minderheit noch stärker kriminalisieren und verfolgen.