Stichwahl in Frankreich: Wenn der gesammelte Volkszorn sich Bahn bricht

Was tun, damit Marine Le Pen nicht Präsidentin wird? Von den Pariser Intellektuellen wählen längst nicht alle die naheliegendste Lösung, nämlich Amtsinhaber Emmanuel Macron.
Die Kulturnation Frankreich ist auf dem Rückzug. Im Präsidentschaftsfinale von 2002 stimmte sie noch erfolgreich und „mit zugehaltener Nase“ (so die damalige Devise) für Jacques Chirac, um den Sieg des Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen zu verhindern. Resultat: 18 Prozent Stimmen für Le Pen. 2017 erhielt seine Tochter Marine im zweiten Wahlgang bereits 34 Prozent gegen Emmanuel Macron. Und 2022 prophezeien die Umfrageinstitute der Kandidatin für den zweiten Wahlgang am nächsten Sonntag schon fast 50 Prozent der Stimmen. Es ist wie im letzten Houellebecq-Roman „Vernichten“: Dass man für Le Pen stimmt, ist in Frankreich kaum mehr einen Nebensatz wert. Eine Banalität.
Der Supergau für die einstmals stolze Kulturnation ist deshalb nicht mehr auszuschließen. In Paris herrscht Leere vor dem Sturm, man verdrängt den Gedanken, wie es wäre mit Le Pen im Elysée-Palast. Moderat und lächelnd wie im Wahlkampf – oder radikal wie in ihrem Anti-Immigrations-Programm?
Die Medien behandeln Le Pen mittlerweile auch wie eine gewöhnliche Kandidatin und vergleichen sittsam die Wahlprogramme von Macron und „Marine“, wie sie sich nennt. Auf einer Pressekonferenz Le Pens musste am Dienstag ein US-amerikanischer Journalist der „New York Times“ die kapitale Frage stellen, wie Le Pen die unabhängige Präsidentin eines souveränen Staates sein wolle, wenn sie einer Putin-Bank in Moskau noch einen Millionenkredit schulde. Andere Fragen zu ihrem Verhältnis mit dem Kremlchef gab es nicht.
Es wäre eine Schockwelle wie die Wahl von Donald Trump in den USA oder der Brexit
Vielleicht will Frankreich nicht wahrhaben, was vielleicht undenkbar ist, aber nicht unmöglich. Und was eine Schockwelle über den Planeten aussenden würde wie die Wahl von Donald Trump in den USA oder der Brexit der Brit:innen. Der feine „esprit français“ hätte für fünf Jahre ausgedient, die EU wohl auch. Nur Wladimir Putin dürfte den Champagner entkorken.
Einige raffen sich auf. Gut hundert Kulturdirektor:innen, darunter Jack Lang vom „Institut du Monde arabe“, Macha Makaieff vom Nationalen Theater in Marseille oder Olivier Py vom Theaterfestival Avignon schreiben in einem Appell, sie wüssten um die Aversion der Bevölkerung gegen den amtierenden Staatschef. Doch die Xenophobie Le Pens sei keine Alternative. „Deshalb stimmen wir am 24. April für Emmanuel Macron“, schreiben sie ohne Umschweife. Ein ähnlicher Appell „ohne Illusionen, aber ohne zu zögern“ kommt von der Schauspiel- und Künstlerzunft. Mit dabei sind Jane Birkin, Juliette Binoche oder Charlotte Gainsbourg; es fehlen aber auch Prominente wie Gérard Depardieu, Alain Delon oder Catherine Deneuve.
Einige Linke, die im ersten Wahlgang für den Populisten Jean-Luc Mélenchon gestimmt hatten, sind bereit zum Umsteigen. Raphaël Glucksmann ruft im Namen seiner Bewegung „Place Publique“ zur Wahl Macrons auf. Der Sohn des verstorbenen Starphilosophen André Glucksmann präzisiert, damit sei „keine Zustimmung zu Macron verbunden“. Im Gegenteil: „Wir sind weiter entschieden gegen das rechtsliberale Projekt des erneut kandidierenden Präsidenten.“ Ob Macron damit viele neue Stimmen erhält?
Die sozialistische Kandidatin Anne Hidalgo wurde in der ersten Runde fast ausgelöscht
Auch gemäßigte Stimmen wie Sozialistenchef Olivier Faure tun sich schwer: Nachdem seine Kandidatin Anne Hidalgo in der ersten Runde mit 1,7 Prozent Stimmen fast ausgelöscht worden wäre, muss er wohl oder übel zur Wahl Macrons aufrufen. Aber auch Faure macht klar: „Das heißt nicht, dass wir Emmanuel Macron ein Mandat geben. Wir schieben nur der extremen Rechten einen Riegel vor.“
Andere wollen nicht mit zugehaltener Nase wählen gehen – sondern gar nicht. Der Philosoph Jacques Rancière sagte: „Ich erwarte nichts mehr von dieser Wahl. Die Thesen der extremen Rechten haben die gesamte politische Klasse angesteckt. Die Logik des Boykotts würde sie nur noch mehr stärken.“ Immerhin tut Rancière seinen Frust noch öffentlich kund. Die meisten schweigen. Das Onlineportal Slate fragt: „Wo sind die Intellektuellen geblieben, die 2017 noch mit von der Partie waren?“
Der Psychoanalytiker Gérard Miller, ehemaliger Anhänger Mitterrands, heute Mélenchon-Wähler und eifriger Talkshow-Gast im Live-Sender LCI, hatte 2017 noch ohne zu zögern für Macron gestimmt, damit Le Pen außen vor blieb. Damals kannte er Macron kaum. Heute kann er ihn nicht mehr leiden. Deshalb will Miller nun eine ungültige Stimme („vote blanc“) abgeben oder gar nicht wählen, wie er sagte. Einer der scharfsinnigsten Denker der französischen Politik dürfte nun zu Hause bleiben.
Die Schauspielerin Carole Bouquet und der Regisseur Claude Lelouch werben für Macron
Macron hat durchaus eine Anhängerschaft in der Zunft der Denker:innen und Künstler:innen. Bei einem seiner jüngsten Auftritte traten die Schauspielerin Carole Bouquet und der Regisseur Claude Lelouch in Erscheinung. Aber viele Linksintellektuelle wollen ihre Stimme für Macron nicht mehr hergeben. Linken-Chef Mélenchon, der nur ganz knapp hinter Le Pen durchs Ziel gegangen war, wiederholte zwar am Wahlabend: „Keine Stimme für Frau Le Pen!“ Das sagte er gleich dreimal, als glaube er selbst nicht recht daran. Laut Umfragen wollen 23 Prozent der Mélenchon-Wähler:innen für Le Pen stimmen, 44 Prozent nicht wählen gehen oder ungültig abstimmen. Nur 33 Prozent wechseln pflichtbewusst zu Macron.
„Alles, nur nicht Macron“ (tout sauf Macron) heißt es laut dem Soziologen Didier Eribon auch in Nordfrankreich, wo seine Familie herkommt. Das dortige Arbeitermilieu stimmte einst für die Kommunisten, dann für den Front National, heute für Mélenchon. Aber nie für einen Ex-Banker wie Macron, der sich abschätzig über einfachere Menschen äußert. So sagt Eribon, der im deutschen Sprachraum seit seinem Verkaufsschlager „Rückkehr nach Reims“ bekannt ist: „Es ist möglich, dass die Mélenchon-Wähler dermaßen wütend sind auf das Macron-Regime, dass sie für irgendwen stimmen“. Irgendwer, das ist Le Pen. 36 Prozent der Arbeiter:innen haben schon im ersten Wahlgang laut Umfragen für die Rechtsextremistin gestimmt.
Die Wut auf Macron ist grenzenlos
Wut ist vielleicht ein schlechter Ratgeber. Die auf Macron ist aber grenzenlos. Dem Fernsehsender BFM sagte ein junger Südfranzose namens Alexandre, er stehe stramm links und sei sehr humanistisch geprägt. „Aber ich werde Marine Le Pen wählen.“ Interessant ist, wie er das begründet. Alexandre will weder Le Pen noch Macron im Elysée. „Die einzige Lösung ist der Le-Pen-Schock“, sagt Alexander. „Eine politische Atombombe.“ Wenn die hochgehe, werde die Linke wenigstens die Parlamentswahlen im Juni gewinnen, lautet das Kalkül des Südwestfranzosen. Dann würde Mélenchon wohl Premierminister. Ist das Szenario nicht etwas gewagt? Nein, glaubt der 36-Jährige: „Le Pen wäre nicht schlimmer als Macron.“
Jacques Attali, der Chefberater von François Mitterrand, dem sozialistischen Präsidenten von 1981 bis 1995, ist ebenfalls überzeugt, dass viele Linke insgeheim für Le Pen stimmen werden, um im Land ein Chaos auszulösen, so wie es die Gelbwesten fast geschafft hätten. In einem Interview sagte Attali, es gebe in Frankreich „einen Willen zur Revolution, eine äußerst starke Wut, die sich auf die eine oder andere Art Bahn brechen wird“. Dieser Volkszorn rühre letztlich daher, dass Frankreich unfähig sei, sich in Ruhe zu entwickeln, erklärt Attali: „In Frankreich macht man keine Reformen, sondern Revolutionen.“ Und sei es die „nationale Revolution“, die Le Pen ihrem Land bescheren will.