Stalin ist tot, der Stalinismus nicht

In Georgien, dem Geburtsland des totalitären Diktators, ist 70 Jahre nach dessen Tod die offizielle Erinnerungskultur weitgehend unkritisch. Eine Reportage von Irina Peter.
Eine Rentergruppe aus Deutschland verlässt gerade das Stalinmuseum im georgischen Gori, als ich auf meinen Einlass warte. Ich frage, wie sie es fanden: „Toll, eine interessante Geschichte, es lohnt sich wirklich!“, versichert die 72-jährige Gisela. Und, werde die Geschichte objektiv aufgearbeitet? „So genau haben wir das Museum nicht angeschaut“, sagt sie und schwärmt von den hübschen Familienbildern des Diktators. Könnte sie sich so ein Museum über Hitler vorstellen? „Nein. Deutschland könnte ein Museum in dieser Wärme für Hitler nicht haben“, stellt sie fest, obwohl sie es sinnvoll fände, auch Hitlers Biografie habe ja zwei Seiten.
Etwas verstört von dieser Unterhaltung betrete ich den pompösen Bau zu Ehren Stalins, der 1878 als Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili in Gori geboren wurde. Vier Jahre nach seinem Tod am 5. März 1953 eröffnete das Museum. Seitdem wurde an der Hauptausstellung wenig geändert, sagt Museumsführerin Larissa. Sie scheucht uns durch einen riesigen Raum mit dunklen Wänden voller Stalingemälden und sagt Dinge wie: „Schaut, wie schön seine Handschrift war.“
Das Museum zeigt Stalins „schöne Handschrift“
Bilder zeigen den sowjetischen Diktator mit Prominenten wie dem russischen Autor Maxim Gorki. Ein Raum stellt Stalins Militärgarderobe und seine Büroeinrichtung aus. Der Höhepunkt der Ausstellung: ein verdunkelter Raum, in dessen Mitte – umringt von Marmorsäulen – die Totenmaske des Diktators liegt. Was die Ausstellung nicht zeigt, sind Bilder von ausgemergelten Arbeitssklaven, die Stalin millionenfach in seinen Lagern zu Tode hat schuften lassen – Opfer der im internationalen Vergleich hinterherhinkenden Industrialisierung der Sowjetunion. Unerwähnt bleiben auch Enteignungen und Zwangsumsiedlungen, die vor allem in den 1930er Jahren zahlreiche ethnische Minderheiten und Verweigerer der Zwangskollektivierung trafen.
Die Ausstellung schweigt auch über die „Säuberungen“, bei denen 1937 und 1938 rund 700 000 Menschen zu Unrecht eingesperrt oder ohne Gerichtsurteil ermordet wurden. Die meisten Besuchenden interessierten sich dafür ohnehin nicht, sagt Larissa, als ich ihr Geratter unterbreche.
Das Museum verdeutlicht auf bizarre Weise, wie ungenügend Georgien die Stalin- und Sowjetherrschaft aufgearbeitet hat. Eine Chance darauf habe das Land, bis 1991 eine der 15 Sowjetrepubliken, auch nach seiner Unabhängigkeit verpasst, sagt Irakli Khvadagiani. Er ist Vorstand des Soviet Past Research Laboratory (SovLab), einer georgischen NGO, die über Verbrechen der Stalinzeit aufklärt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion forderte zunächst ein Bürgerkrieg die Aufmerksamkeit des Landes, später widmete sich die Regierung dem wirtschaftlichen Aufbau. Wichtige Teile von Archiven aus der Sowjetzeit fielen in den 1990ern nicht näher untersuchten Bränden zum Opfer. „Unsere Machthaber waren damals nicht an Aufklärung interessiert“, sagt Khvadagiani. Belastende Informationen hätten ehemalige Parteifunktionäre die Karrieren kosten können, die sie teilweise bis heute im südkaukasischen Land fortführen.
Erst unter dem prowestlichen Micheil Saakaschwili, ab 2004 Präsident des Landes, verschwanden per Gesetz Stalin-Statuen aus dem öffentlichen Raum. Damals entstand in Tbilissi ein Museum über die „sowjetische Okkupation“ und aus dem Stalin-Museum in Gori sollte ein Ort werden, der über den Stalinismus informiert. Doch 2012 übernahm die Oppositionspartei Georgischer Traum die Regierung und ließ die Pläne fallen. Sie gilt als kremlnah und als Machtwerkzeug des Parteigründers und Oligarchen Bidsina Iwanischwili, der sein Vermögen in Russland gemacht hat. Laut Khvadagiani behindert die Regierung die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen im Land. So könne das SovLab demnächst im Rahmen eines neuen Gesetzes zu einem „ausländischen Agenten“ erklärt werden.
Und schon jetzt sei es schwer, Menschen über Stalins Verbrechen aufzuklären: Rund 40 Prozent der älteren Georgier bewerten den Diktator laut Umfragen positiv. Und das obwohl sich seine Vernichtungspolitik auch gegen das eigene Volk richtete. Trotzdem gibt es Khvadagiani zufolge in Georgien einen zweifelhaften Nationalstolz auf den berühmtesten Sohn des Landes.
Viele sehen den Massenmörder Stalin positiv
In Russland lag die positive Einschätzung der Rolle Stalins 2019 sogar bei 70 Prozent, so eine Umfrage des Moskauer Lewada-Instituts, ein rasanter Anstieg im Vergleich zu den 1990er Jahren. Doch seitdem hat Russlands Präsident Wladimir Putin Stalins Rolle und die Sowjetära im Sinne seiner neoimperialistischen Politik instrumentalisiert. Auf einer Geschichtslehrerkonferenz sagte Putin 2007, man wolle künftig nicht länger auf die dunklen Kapitel Russlands blicken, sondern Stalins Erfolge beim Aufbau einer ruhmreichen sowjetischen Vergangenheit zeigen. 2015 ließ er das Gulag-Museum „Perm 36“ von einem Museum über politisch Repressierte zu einem über die Aufseher umgestalten. 2021 verbot er die Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich seit der Perestroika um Aufklärung der stalinistischen Verbrechen bemüht. Im selben Jahr trat ein Gesetz „gegen Geschichtsfälschung“ in Kraft, das unter anderem ein Gleichsetzen von Sowjet- und NS-Handlungen unter Strafe stellt. Der Hitler-Stalin-Nichtangriffspakt vom August 1939 fällt damit unter ein Tabu.
Die Glorifizierung Stalins und der Sowjetunion ist wichtiger Pfeiler der kremlschen Propaganda, mit der Russland auch den Krieg gegen die Ukraine ideologisch begleitet. Sie soll bei Menschen aus dem postsowjetischen Raum den Wunsch nach einer Welt wecken, in der die Sowjetunion noch eine gefürchtete Macht war. Vor allem das russische Staatsfernsehen verbreitet eine beschönigte Version der Sowjetunion. T-Shirts mit Stalins Konterfei finden in Russland deshalb seit Jahren Abnehmer, ebenso wie im Museumsshop in Gori.
Im Krieg mit Russland, aber auch mit ihm verbunden
Aber auch wenn Menschen in Russland und Georgien sich darin ähneln, Stalins Rolle falsch zu erinnern, blickt Georgiens Bevölkerung mit Misstrauen und Angst auf den Nachbarn. Die Bilder von Toten auf Goris Straßen während des Krieges 2008 zwischen den beiden Ländern sind noch frisch im Gedächtnis. Damals erkannte Russland nach fünf Tagen Kampf Südossetien und Abchasien als eigenständig an – ein Völkerrechtsbruch. Seitdem sind dort russische Truppen stationiert.
An den Krieg vor fünfzehn Jahren erinnert in Gori eine kleine Ausstellung im Erdgeschoss des Museums. Dort, versteckt unter einer Treppe, findet sich auch ein Verhörraum, wie er unter Stalins Terrorherrschaft genutzt wurde. Die Museumsleitung sieht sich zunehmend gezwungen, Stalins Verbrechen zu thematisieren. Aber es fehle das Know-how, um den Stalinismus adäquat zu präsentieren, ebenso wie Geld. Dabei erfahre ich von SovLab, dass das Museum die wichtigste Einnahmequelle der Stadt und die am besten besuchte Ausstellung des Landes ist. Das Museum in Gori ist Sinnbild für die Risse und Widersprüche in Georgien, das einen Anschluss an Westeuropa und die USA sucht, sich aber geschichtlich, wirtschaftlich und politisch nicht von Russland lösen kann. (Irina Peter)