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„Spezialoperation“ Belgorod

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Von: Stefan Scholl

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Die durch den Explosionsdruck zerstörte Außenwand einer Wohnung.
Die durch den Explosionsdruck zerstörte Außenwand einer Wohnung. © afp

Ein russischer Kampfflieger bombardiert auf seinem Weg zum Einsatz in die Ukraine eine grenznahe russische Stadt. In Putins Reich rätseln nun alle über die Ursache.

Die Besatzungsarmee setze den provokativen Beschuss eigener Städte fort, twitterte Oleksyj Danilow, Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, am Freitag genussvoll. „Ziel ist, die Zivilbevölkerung zu verängstigen und die Eskalation voranzutreiben.“

Am Vorabend war eine Fliegerbombe in einem Wohngebiet der südwestrussischen Stadt Belgorod eingeschlagen. Der Kreml bestätigte den „außerplanmäßigen Abwurf von Luftkampfmunition“ beim Flug einer Su-34 über Belgorod, es werde ermittelt. Die Explosion gegen 22 Uhr Ortszeit an einer Straßenkreuzung im Wohnbezirk Charkowskaja Gora riss nach Angaben von Gebietsgouverneur Wjatscheslaw Gladkow einen „gewaltigen Trichter mit einem Radius von 20 Metern“ in Asphalt- und Grünflächen. Zwei Menschen wurden verletzt, vier Wohnungen und mehrere Autos schwer beschädigt, ein PKW landete auf dem Dach eines Supermarktes. Ein Wohnhaus wurde vorsichtshalber geräumt. Fachleute nannten es einen Zufall, dass es keine Tote gab.

Die Gründe für den Fehlabwurf sind unklar. Ein anonymer Ex-Kampfpilot spekulierte gegenüber der Zeitung „Moskowskij Komsomoljez“ darüber, ob der Abwurf der Bombe mit überstarken Fliehkräften während eines Flugmanövers zusammenhängt. Oder mit fehlerhafter Bordelektronik. Der Telegramkanal „Woennyj Oswedomitel“ schließt nicht aus, das Geschoss sei eine kürzlich modernisierte Gleitsprengbombe, Typ FAB-500M62. Nach russischen Medienberichten ist dieser Halbtonner erst seit wenigen Wochen im Einsatz. „Ein Angriff mit den mächtigsten Bomben gegen die ukrainischen Streitkräfte in Bachmut wurde zum Horrorsignal für Kiew“, titelte der „Moskowskij Komsomoljez“ am Dienstag triumphal.

„Friendly Fire“

Im Krieg geht jeder Plan schief. Oder auch: „Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt.“ Diese Bonmots zu einem stets katastrophalen Umstand sind oft gemünzt auf eine umfassende Konfliktlage oder zumindest auf eine Konfrontation, die in einer Schlacht mündet. De facto beherrscht der „General Zufall“ als Einziger jegliche Lage.

„Eigenbeschuss“ – oder der gebräuchlichere englische Fachbegriff „friendly fire“ ist eigentlich erst mit Gebrauch von Distanzwaffen, vor allem von Feuerwaffen, aufgetreten. Mithin ist das Schießen auf die eigenen Leute also ein Merkmal des industrialisierten Krieges, weshalb auch im Ersten Weltkrieg das Wort „friendly fire“ erst geprägt wurde. Dies kann versehentlich geschehen durch falsche Zieldaten (Artillerie) oder Übermut und Unerfahrenheit (im infanteristischen Gefecht). Im Vietnamkrieg geschah dies auch erstmals absichtlich, wenn ein US-Kommandeur entferntes „Feuer auf die eigene Stellung“ anforderte, weil Vietnamesen dort eingedrungen waren.

In der Theorie des Krieges herrscht (vor allem in der zivilen Wahrnehmung) immer noch die Fiktion vom räumlich beschränkten Schlachtfeld vor, in dem Kontrahenten aufeinandertreffen und Zivilpersonen außerhalb davon als „nichtkombattant“ vor Kampfhandlungen geschützt sind. Kommen Zivilpersonen jedweder Seite absichtlich zu Schaden, spricht man von „Kollateralschäden“ nach dem Prinzip: Der Zweck heiligt die Mittel. Dieser Begriff wurde Anfang der 60er Jahre geprägt, allgemein bekannt aber erst im Kuwait-Krieg 1991. Dieser Orwell’sche Euphemismus wurde dann 1999 zum Unwort des Jahres gekürt. „Collateral damage“ ist aber nicht „friendly fire“.

Belgorod ist demnach weder „collateral damage“ noch „friendly fire“. Der Vorfall muss wohl vielmehr als menschliches und vielleicht auch technisches Versagen (auf das menschliches folgte) gewertet werden. rut

Aber offenbar trifft keineswegs jeder der „Präzisions“-Schwergewichte ins Ziel. Mehrere russische Militärblogger haben berichtet, am 12. März sei ein FAB-500M62-Blindgänger auf einer Straße in der von russischen Truppen kontrollierten Großstadt Donezk gefunden worden.

„Diese Module werden in Garagen gebastelt, schnell und in großen Mengen“, schreibt der ukrainische Militärexperte Oleksander Kowaljenko auf Facebook. Deshalb seien sie unzuverlässig und fielen oft einfach in der Luft auseinander. Die Frage sei, wie viele der Bomben deshalb schon in Wald und Feld gelandet sind. „Eine etwas rohe Neuentwicklung“, erklärt auch „Woennyj Oswedomitel“, warum „solcherlei Pannen auftreten“ können.

Der für seine beißende Kritik an der Militärführung bekannte russische Ex-Geheimdienstler Igor Strelkow aber erzählt auf Telegram einen alten Fliegerwitz: „Der Kommandeur erfährt, dass der betrunkene Navigator die Flugkarten vergessen hat. ,Dann müssen wir schon wieder nach der Zeichnung auf einer Schachtel Belomor-Zigaretten fliegen.‘“ Strelkow schreibt, hoffentlich sei der reale Grund eine technische Panne gewesen, nicht aber, dass jemand einfach zwei Städte miteinander verwechselte.

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