Von wegen „irre“ – Wladimir Putin verfolgt eine klare Strategie

Russlands Wladimir Putin wird sich nur bei glaubhafter Androhung von Gewalt zurückziehen. Nicht aber wegen weitgehend wirkungsloser Sanktionen. Eine Analyse.
Moskau – In ihrer Feindseligkeit gegenüber den USA, Westeuropa und demokratischen Ideen und Institutionen hat die Außenpolitik des russischen Präsidenten Wladimir Putin* eine unheimliche Ähnlichkeit mit der seiner sowjetischen Vorfahren. Im Mittelpunkt von Putins Weltanschauung steht das, was der angesehene Diplomat George Frost Kennan „Russlands traditionelles und instinktives Gefühl der Unsicherheit“ nannte. Er sagte laut dem Onlineportal Daily Beast einst über Russland*: „Und sie lernten, Sicherheit nur im geduldigen, aber tödlichen Kampf für die Zerstörung der rivalisierenden Macht zu suchen, niemals in Verträgen oder Kompromissen mit ihr.“
Wladimir Putin, ehemaliger hochrangiger KGB-Offizier, hat bekanntlich gesagt, dass der Untergang der Sowjetunion die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts war, und er arbeitet seit 22 Jahren unermüdlich daran, Russlands Status als Großmacht wiederherzustellen. Ohne Frage hat er große Fortschritte gemacht.
Ukraine: Wladimir Putin und die hybride Kriegsführung
Unter Putin hatte der russische Staat eine beeindruckende Fähigkeit entwickelt, mehrere Instrumente zur Verfolgung seiner Ziele zu integrieren, oft auf Kosten der USA* und der Nato.
„Hybride Kriegsführung“, so analysiert der Daily Beast, ist vielleicht der beste Name für die aktuelle Herangehensweise des Kremls an Konflikte. Sie kombiniert konventionelle Militäroperationen und militärische Einschüchterung mit politischen Frontbewegungen, Multimedia-Propagandakampagnen, gefälschte Nachrichten, Cyberkrieg und traditioneller Diplomatie.
Ukraine-Krieg: Russland und die Lufthoheit
Russland verfügt jetzt über beeindruckende konventionelle Streitkräfte, die für Operationen in Osteuropa maßgeschneidert sind. Die ominöseste Fähigkeit der russischen Armee in den Augen des Nato-Kommandos ist möglicherweise die Luftverteidigung. Ihre Anti-Access/Area Denial (A2/AD)-Systeme sind laut Daily Beast sehr robust und werden ständig ausgefeilter. Westliche Streitkräfte betrachten die Luftüberlegenheit mittlerweile als selbstverständlich, wo immer sie stationiert sind. In einem Krieg gegen sowjetische Streitkräfte wäre dies nicht unbedingt der Fall.
Laut dem Russian New Generation Warfare Handbook der US-Armee „verwendet Russland ein sehr dichtes Netzwerk von Luftverteidigungssystemen, die sich in Schichten überlappen, um ihre Schutzfähigkeiten zu erhöhen. Lücken in der Abdeckung können … durch neue [elektronische Kriegsführungs-]Systeme gefüllt werden, die anfliegende Raketen verwirren … oder eine vorzeitige Detonation elektronischer Zünder verursachen.“
Ukraine-Krieg: Putin sieht die regelbasierte Ordnung als manipuliert an
Westlichen Medien sehen Putins Entscheidung, einen umfassenden Krieg gegen die Ukraine zu führen, als einen empörenden Affront sowohl gegen die regelbasierte internationale Ordnung als auch gegen die ukrainische Souveränität an. Putin sieht die regelbasierte Ordnung als gegen die legitimen Interessen Moskaus manipuliert an und die westlichen Mächte als unwillig an, russische Sicherheitsbedenken gegenüber der Nato, das mit Abstand größte Militärbündnis der Welt, anzuerkennen.
Seine dringendste Sorge ist eindeutig das langsame, aber unverkennbare Abrutschen der Ukraine* in Richtung Westen. Ein Abrutschen, das seit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 erheblich an Fahrt gewonnen hat. Putin ist entschlossen, dieses Abrutschen nicht nur aufzuhalten, sondern umzukehren.
Russischen Expansionstendenzen entschlossen entgegentreten
Kennan, der die USA in Bezug auf die Sowjetunion beriet, würde die bruchstückhaften und reaktiven Reaktionen des Westens auf Putins Beschwerden, sowohl echte als auch eingebildete, in den letzten Jahren sehr kritisch sehen, so der Daily Beast. Kennan riet, dass die USA und ihre Verbündeten „eine Politik der langfristigen, geduldigen, aber festen und wachsamen Eindämmung russischer Expansionstendenzen verfolgen“ müssen. Er betonte auch die lange Geschichte des imperialen Russlands, des Expansionismus und der Paranoia über die Absichten fremder Mächte - und dass sie den kapitalistischen Westen als unerbittlichen Feind Russlands sehen, der auf dessen Demütigung und Zerstörung aus ist.
Kennan war fest davon überzeugt, dass der Westen Russlands tief verwurzelten expansionistischen Tendenzen mit Gegenkraft, Entschlossenheit und einstimmig entgegentreten müsse. Denn sonst würde Moskau sicherlich versuchen, westliche Eingriffe in Gebiete zu bekämpfen, die Russland als in seinem rechtmäßigen Einflussbereich ansieht. „Der Kreml“, schrieb er laut Daily Beast bereits 1946, „hat keine Bedenken, sich angesichts der Übermacht zurückzuziehen.“
Ukraine-Krieg: Diplomat sah Erweiterung der Nato-Ostgrenze kritisch
1997, acht Jahre vor seinem Tod, schrieb Kennan laut Daily Beast in sein Tagebuch: „Die Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns in die Nato hat mich sehr unglücklich gemacht.“ Wie sei eine solche Entwicklung „mit den Zusicherungen an die Russen zu vereinbaren, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen, dass die Erweiterung der Nato-Grenzen nach Osten keine militärischen Implikationen hat“?
Kennan sah in der raschen und rücksichtslosen Expansion der Nato* „nichts anderes als einen neuen Kalten Krieg, der wahrscheinlich in einem heißen enden wird, und das Ende der Bemühungen um eine funktionsfähige Demokratie in Russland“.
Ukraine-Konflikt: Putin wird sich nicht wegen Sanktionen zurückziehen
Kennan, der die Entwicklung hatte kommen sehen, würde heute wahrscheinlich sagen, dass Putin, wie seine sowjetischen und zaristischen Vorgänger, nur angesichts glaubhafter Androhungen von Gewalt zurückhaltend handeln würde. Nicht aber wegen weitgehend wirkungsloser Sanktionen gegen Moskau im Gefolge der Annexion der Krim und seiner Unterstützung der russischen separatistischen Minderheit in der Ostukraine. Der größte Landraub der Ära nach dem Kalten Krieg in Europa führte zu kaum mehr als einer Ohrfeige für den starken russischen Mann.
Tatsächlich war Abschreckung ein wesentliches Element von Kennans Konzepts der Eindämmung. Wie er während des Kalten Krieges immer wieder sagte, mussten westliche Politiker ihre roten Linien absolut klar erkennen und sie mit glaubwürdigen Drohungen militärischer Gewalt untermauern. Die aktuelle Invasion Russlands in die Ukraine scheint Kennan recht zu geben.
Präsident Putin mit Erfolgsbilanz in Kriegen
Chris Miller, Professor für internationale Politik an der Fletcher School, schrieb kürzlich in einem Aufsatz in der New York Times: „Es gibt heute keinen Weltführer mit einer besseren Erfolgsbilanz, wenn es um den Einsatz militärischer Macht geht*, als … Putin. Ob gegen Georgien 2008, die Ukraine 2014 oder in Syrien seit 2015, das russische Militär hat Erfolge auf dem Schlachtfeld immer wieder in politische Siege umgewandelt.“
Putins Hauptgegner – die Vereinigten Staaten von Amerika – haben seit dem Ende des Kalten Krieges eine weitaus umfassendere Bilanz des Einsatzes militärischer Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele vorzuweisen als Russland. Das Problem ist, dass die USA ihre Ziele normalerweise nicht erreicht haben und groß gescheitert sind.
Ukraine-Krieg: Wladimir Putin weiß, was er will
Putin merkt, so der Daily Beast, dass die USA heute eine kriegsmüde Supermacht sind, die versucht, den Großteil ihrer Streitkräfte in die indopazifische Region zu verlegen, um China abzuschrecken. Und er weiß, dass die Europäer unter dem amerikanischen Sicherheitsschirm weich und bequem geworden sind.
Er glaubt nicht, dass der Westen bereit ist, diplomatische Zugeständnisse zu machen. Und so hat er sich entschieden, das zu bekommen, was er will, und das auf eine Weise, die für ihn bisher sehr gut funktioniert hat: militärische Gewalt. (Sonja Thomaser) *fr.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA