Sexuelle Belästigung in der Politik: „Es geht immer um eine Art von Machtausübung“

Die Politologin Helga Lukaschat spricht im FR-Interview über das erhebliche Ausmaß von sexueller Belästigung in Parteien.
Frau Lukoschat, die Linkspartei beschäftigt sich derzeit mit Vorwürfen sexuellen Machtmissbrauchs. Wie sollte eine Partei damit umgehen?
Ganz wichtig ist, dass sich die betroffene Partei, aber letztlich alle Parteien in diesem Land eingestehen, dass es bei ihnen zu alltäglichem Sexismus bis hin zu sexueller Belästigung und sexuellen Übergriffen kommen kann. Es ist der allererste Schritt, nicht zu versuchen, es unter dem Deckel zu halten, sondern das anzuerkennen und wirklich ehrlich zu fragen: Was können wir dagegen tun?
In Ihrer Untersuchung „Parteikulturen und die politische Teilhabe von Frauen“ haben 60 Prozent der Politikerinnen unter 45 Jahren angegeben, schon sexuelle Belästigung erlebt zu haben. Hat Sie eine so hohe Quote überrascht?
Ja. In diesem Umfang hatte ich das nicht erwartet. Aufschlussreich fand ich dabei auch, dass uns Frauen erzählt haben: Je weiter sie aufgestiegen sind in ihrer Partei, desto weniger haben sie sexistische Sprüche und ähnliches erlebt. Da zeigt sich: Es geht nicht um Sexualität oder um Erotik. Es geht immer um eine Art von Machtausübung.
Linken-Bashing greift zu kurz
Betrifft das Problem die Parteien in unterschiedlichem Maße?
Wir haben aus allen Parteien Berichte über alltäglichen Sexismus und sexuelle Belästigung gehört. Aus der Linken wurde uns vieles berichtet, insofern hat es mich nicht gewundert, dass das jetzt hochkam. Es wäre aber sicherlich falsch, ein Linken-Bashing zu betreiben. Alle Parteien sind weitgehend männlich geprägt. Hier stellen nur die Grünen einen Sonderfall dar, denn sie haben deutlich mehr weibliche Mitglieder, auch mehr jüngere. Vielleicht ist es die Partei, die am sensibelsten für dieses Thema ist. Aber frei ist sie sicherlich auch nicht davon.
Die Linke hat Schritte zur Prävention und für eine Unterstützung Betroffener beschlossen. Ist das der richtige Weg?
Prävention ist enorm wichtig, denn wir wollen, dass sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch, der sexuelle Gegenleistungen verlangt, nicht vorkommen. Präventive Maßnahmen dürfen aber nicht kosmetischer Natur sein. Man muss in jedem Ortsverein über ein Leitbild diskutieren: Was können wir tun, um solche Vorfälle zu verhindern? Es muss in die Breite hineinwirken.
Zur Person
Helga Lukoschat ist Mitgründerin und Vorstandsvorsitzende der Denkfabrik EAF Berlin. Die promovierte Politikwissenschaftlerin war früher als Journalistin und Publizistin tätig. Die EAF ist eine gemeinnützige Organisation zur Förderung von Chancengleichheit und Vielfalt in Führung in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Im vorigen Jahr legte die EAF gemeinsam mit dem Institut für Demoskopie Allensbach die Studie „Parteikulturen und die politische Teilhabe von Frauen“ vor, für die mehr als 500 Politikerinnen und knapp 300 Politiker befragt worden waren. pit
Was tun die Parteien schon?
Es gibt auf Parteitagen zum Beispiel sogenannte Awareness-Teams. Meistens geht das von den Jugendorganisationen aus, dass gesagt wird: Leute, wenn irgendetwas sein sollte, meldet Euch. Diese Awareness-Teams sprechen dann diejenigen an, die Grenzen überschritten haben. Blaming und Shaming im Vorfeld anzudrohen – das bewirkt schon etwas. Auch haben Parteien verschiedentlich Ombudsstellen eingeführt, aber noch nicht in der Fläche.
Betroffene ernst nehmen
Mit jedem Vorwurf, der öffentlich wird, kann auch die Diskussion aufkommen, ob er erhoben wird, um jemandem in der Partei zu schaden. Wie kann man damit umgehen?
Zunächst einmal sollten alle Betroffenen absolut ernst genommen werden. Die Betroffenen müssen eine Möglichkeit haben, sich an eine Stelle zu wenden, die so gut als möglich unabhängig ist und nicht in die parteiinternen Machtgefälle eingebunden ist. Wichtig ist, dass es solche Anlaufstellen mindestens in jedem Landesverband geben muss. Man sollte sich auch auf gemeinsame Verfahren verständigen. Die Charité – das Universitätsklinikum in Berlin – hat so etwas aufgelegt, um einen professionellen Umgang zu definieren, der für die Betroffenen angemessen ist.
Kennen Sie im politischen Bereich solche Regelungen wie bei der Charité?
Nein, die gibt es meines Wissens noch nicht. Als erste Partei hat die FDP nach einer internen Befragung zum Thema Umgangsformen Ombudspersonen benannt. Diese sind übrigens für alle Geschlechter da. Denn sexuelle Belästigung kann auch Männer treffen, insbesondere homosexuelle Männer, sie kann Transpersonen treffen. Es ist aber in unserer Gesellschaft ein Phänomen, von dem Frauen in besonderem Maße betroffen sind. Es muss ein Anliegen für die gesamte Partei sein, auch für die Männer, ganz entschieden zu sagen: Das wollen wir nicht. Die FDP hat auch einen „Code of conduct“ aufgelegt, also einen Verhaltenskodex. Aber auch hier ist wichtig: Das muss breit diskutiert werden. Papier ist geduldig.
„Es ist ein Tabuthema.“
Wie offen gehen die Parteien damit um?
Es ist ein Tabuthema. Keine Partei möchte damit an die Öffentlichkeit treten und dafür kritisiert werden. Aber es nützt nichts, das zu tabuisieren. Die sexuelle Belästigung ist ja der krasseste Ausdruck dieses alltäglichen Sexismus. Der äußert sich auch in vielleicht nett gemeinten Bemerkungen, im Überhören von Redebeiträgen von Frauen, im Reduzieren von Frauen aufs Äußere. Viele Frauen haben uns erzählt, dass sie sich fragen: Sage ich jetzt etwas? Werde ich dann als Spielverderberin, als Zicke wahrgenommen? Gut wäre eine professionelle Moderation in den Sitzungen, die eingreift, wenn solche Bemerkungen fallen.
Wie würde eine andere Kultur den Parteien helfen?
Es ist ein demokratiepolitisches Thema. Die Parteien brauchen Leute, die bei ihnen mitmachen. Sie brauchen ein Klima, das es attraktiv macht, sich zu engagieren – gerade für Frauen und vor allem für jüngere Frauen, die deutlich unterrepräsentiert sind. Ich habe immer noch das Gefühl, diese Dringlichkeit ist den Parteien noch nicht bewusst, gerade mit Blick auf ihre eigene Zukunftsfähigkeit. (Interview: Pitt von Bebenburg)
Der FR-Kommentar: Sexismus in der Politik