Sergej Einbinder filmt in Russland weiter bis zuletzt

Während viele das Land verlassen haben, bleibt der Chef einer der letzten unabhängigen Nachrichtenplattformen in Russland.
Einmal filmte Sergej Einbinder ein baufälliges Kleinstadtkrankenhaus in der Wolga-Region Twer. „Die Holzwände waren morsch, das Dach hing schon durch, Besucher balancierten auf Brettern über Pfützen zum Eingang.“ Aber eine Ärztin sei zu ihm herausgekommen, habe ihm erzählt, der Chefarzt klettere manchmal mit Hammer und Nägeln aufs Dach, um es zu reparieren. Die Behörden warteten nur auf einen Vorwand, das einzige Krankenhaus am Ort zu schließen. „Sie bat mich, meine Aufnahmen nicht zu veröffentlichen.“
Einbinder, Herausgeber und Chefredakteur der Nachrichtenplattform „RusNews“, erfüllte ihre Bitte. Zum ersten Mal in seinem Journalistenleben habe er auf eine kritische Reportage über die Obrigkeit verzichtet, sagt er. „Weil die Behörden das Krankenhaus, das sie verrotten lassen, nicht renoviert, sondern einfach dichtgemacht hätten.“
Der 49-Jährige sieht aus wie der Schauspieler Jeremy Renners, seine Garderobe besteht aus Jeans und grauem T-Shirt. Inzwischen schalten er und seine Journalist:innen oft ihre Kameras oder Handys aus: „Manche Leute, die wir auf der Straße befragen, ereifern sich so, dass ihnen dafür Strafverfahren blühen können.“
Es mögen noch ein paar Hundert freier Journalist:innen in Russland sein
Einbinder studierte Jura, versuchte sich erst als Bau-, dann als Fuhrunternehmer, ein Selfmademan, der für seine Rechte einstand. Bei den Fernfahrerprotesten 2016 lernte er eine junge Journalistin kennen, Alexandra Agejewa, Gründerin der Videoplattform Sota Vision. Einbinder begann, für sie Videoreportagen zu produzieren, sie heirateten. Als sie sich 2020 scheiden ließen, gründete er sein eigenes Nachrichtenportal.
Seine Ex-Frau und ihr Team senden jetzt aus Riga, fast alle oppositionellen Journalist:innen sitzen im Exil, kommentieren Putins „Kriegsspezialoperation“ aus Riga, Paris oder Amsterdam. Aber dabei profitieren sie von der sehr selbstlosen Courage Einbinders und anderer Gebliebener.
Es mögen noch ein paar Hundert freier Journalist:innen, ein paar Dutzend Telegram- und Youtube-Kanäle sein, die kritische Videos und Reportagen aus Russland liefern. Und „RusNews“. Seine Reporter:innen schalten ihre Kameras oder Handys dort ein, wo sich noch ziviler Widerstand regt. Im Dorf Ischmursino in Baschkirien, dort wollen die Einwohner eine Goldschürfgrube verhindern. Oder vor einem Moskauer Denkmal für die ukrainische Dichterin Lesa Ukrainska, wo mutige Russinnen Blumen für ukrainische Bombenopfer niederlegen.
Journalismus in Russland: Viele Bilder und O-Töne, nur wenig Kommentar
Sie liefern möglichst viele Bilder und Originaltöne und möglichst wenig Kommentar. „Wir balancieren auf der Grenzlinie des Gesetzes“, erklärt Einbinder. „Wenn in der Ukraine Raketen eingeschlagen sind, schreiben wir nicht, wer sie abgeschossen hat.“ Das sei dem Publikum auch so klar. Aber jedes veröffentlichte Wort, das den unbefleckten Heroismus von Putins Truppen infrage stellt, kann inzwischen wegen „Diskreditierung der Streitkräfte“ mit Gefängnis bestraft werden. Einbinder sagt, seine Mitarbeitenden seien Leute mit eigener Meinung, viele hätten als ökologische und soziale Aktivist:innen angefangen.
Schon sitzen drei „RusNews“-Reporter:innen im Gefängnis: Gegen der Tomsker Journalisten Iwan Kusnezow laufen zwei Verfahren als Anstifter öffentlicher Unruhen und Organisator einer „extremistischen Vereinigung“, seinem Kollegen Roman Iwanow aus der Moskauer Vorstadt Koroljowo drohen wegen „Fake News“ ebenfalls mehrere Jahre Gefängnis, Maria Ponomarjenko aus Barnaul war im Februar unter der gleichen Anklage zu sechs Jahren Haft verurteilt worden…
„RusNews“ berichtet immer häufiger aus Gerichtssälen, oder wenn die gesperrt sind, aus den Treppenhäusern und von den Bürgersteigen davor, den letzten Hochburgen der Zivilgesellschaft. Einsiedler sagt, seine Reporter:innen seien Zeitzeug:innen: „Wir filmen Leute, wie sie mit Plakaten auf der Straße stehen. Und wie sie danach ins Gefängnis geschickt werden, wir filmen die Kommentare ihrer Rechtsanwälte.“ Viele Verhaftete seien aufgrund solcher Aufnahmen schon als politische Häftlinge anerkannt worden. Und Einbinder hofft, es werde eine Zeit kommen, wo sie aufgrund dieser Aufnahmen freigelassen werden. Und rehabilitiert. „Youtube“, sagt er, „ist ewig.“
Aber es gibt für russische Autor:innen keine Youtube-Werbegelder mehr. Und „RusNews“ nimmt auch von Exilmedien keine Honorare, weil es dann Gefahr liefe, dass die staatliche Bürokratie ihm als „ausländischem Agenten“ die Luft abdreht. Die Plattform lebe von Spendengeldern ihrer Leser und Zuschauer, sagt Einbinder. „RusNews“ lebt von Enthusiasmus.
Einbinder selbst wurde mehrfach festgenommen, filmt auch in vergitterten Gefängnisbussen weiter, längst, nachdem man ihm befohlen hat, sein Handy auszuschalten. „Unsere Mission ist es, zu bleiben“, sagt er.