„Selbstverwaltung wird quasi täglich angegriffen“: Die Not nach dem Erdbeben in Syrien
Die Angriffe des türkischen Militärs haben für die Selbstverwaltung in Nordsyrien schwere Folgen. Über eine Region, die multiple Krisen auf einmal bewältigen muss.
Tal Rifaat – Nur kurze Zeit nach dem verheerenden Erdbeben griff die Türkei vor einigen Tagen kurdisch verwaltete Gebiete in Nordsyrien an. Laut türkischem Staatsnarrativ handelte es sich dabei um eine Reaktion auf Angriffe kurdischer Kräfte. In den selbstverwalteten Gebieten Nordsyriens verhindert der anhaltende Konflikt mit der Türkei schon lange die so dringend benötigte Stabilität.
Im Gespräch mit FR.de von IPPEN.MEDIA fragt Khaled Davrisch, Vertreter der Selbstverwaltung in Deutschland: „Wie sollen Erdbebenhelfer in Nord- und Ostsyrien arbeiten, wenn sie gleichzeitig Angriffe der Türkei fürchten müssen?“ Es zeichnet sich das Bild einer humanitären Katastrophe, deren Beseitigung durch den Konflikt verlangsamt wird – wenn nicht sogar verhindert.
Erdbeben in Syrien: Humanitäre Lage in selbstverwalteten Gebieten und der Konflikt mit der Türkei
Das Erdbeben in Syrien und der Türkei verschärft in Nordsyrien eine bereits bestehende humanitäre Notsituation: Der anhaltende Konflikt mit der Türkei setzt der Selbstverwaltung schwer zu, die militärischen Angriffe betreffen auch die zivile Infrastruktur. In dieser ohnehin angespannten Situation erschüttert nun auch noch ein Erdbeben die Region. Khaled Davrisch, Vertreter der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Deutschland, erklärt, wie das Beben in Nordsyrien ein Gebiet getroffen hat, das bereits durch den Krieg vor immensen infrastrukturellen und humanitären Herausforderungen steht.

Der Vertreter der Selbstverwaltung gegenüber der FR: „Die Lage ist schlimm. Die türkischen Bombenangriffe im November haben die Bevölkerung schwer getroffen, zivile Infrastruktur wie Elektrizitätswerke, Ölfelder und Getreidesilos wurde zerstört. Und jetzt noch das Erdbeben. In den Gebieten der Selbstverwaltung sind vor allem die Shehba-Region, Kobane, Manbij und der Norden von Aleppo betroffen.“ Davrisch weiter: „Die Angriffe der Türkei verhindern, dass Erdbebenhelfer sich vor Ort sicher bewegen können, jetzt gerade müssen sie Angst vor türkischen Drohnen- oder Artillerieangriffen haben.“ Hilfsgüter erreichen das Gebiet zudem schleppend.
Schon vor dem Erdbeben in Syrien: Krieg mit der Türkei destabilisiert die Region
Die Angriffe der Türkei destabilisieren die kurdisch verwalteten Gebiete – das haben sie schon vor dem Erdbeben in Syrien mit tausenden Toten getan. Davrisch betont, die Region brauche Stabilität: „Die Selbstverwaltung wird quasi täglich vom türkischen Staat angegriffen. Nicht einmal 24 Stunden nach dem Beben hat die Türkei Tel Rifaat in der Shehba-Region mit Artillerie angegriffen. Am Wochenende tötete eine türkische Drohne einen Menschen in Kobane. Außerdem wurden Dörfer in der Nähe von Ain Issa mit schweren Waffen angegriffen.“ Multiple Krisen greifen in Nordsyrien derzeit ineinander, mit großer zerstörerischer Kraft. Die Mittel zum Umgang mit den Folgen sind auch aufgrund von Blockaden begrenzt.
Davrischs klare Forderung: Die Türkei unter Recep Tayyip Erdogan müsse ihre Angriffe einstellen und sich aus der Region zurückziehen. Bereits früher hatte er in einem Gespräch mit der FR betont: „Wir sind bereit für Verhandlungen mit der Türkei, wir haben die Türkei nie angegriffen.“
Letzteres bestreitet die Türkei ihrerseits – und zeigt keine Signale der Gesprächsbereitschaft. Es brauche internationale politische Anerkennung und Einbindung in Gespräche über die Zukunft Syriens, so Davrisch. Nur: Gute Aussichten darauf gibt es allem Anschein nach bisher nicht.
Für eine friedliche Perspektive in Nordsyrien: „Die Bundesregierung könnte Gespräche vermitteln“
Die humanitäre Lage in den selbstverwalteten Gebieten ist nicht erst seit dem Erdbeben prekär, das hat neben dem Krieg mit ausbleibender humanitärer Hilfe und Blockaden zu tun. Die Hoffnung bleibt, dass mit der angekündigten Öffnung von Grenzpunkten durch den syrischen Machthaber Assad, zumindest in dieser besonders akuten Lage, mehr Hilfe in die Region gelangen kann.
Um Stabilität in die kurdisch verwalteten Gebiete in Syrien zu bringen, braucht es eine Perspektive des Friedens. Bei dessen Vermittlung könnte auch Deutschland eine Rolle spielen, denn „die Bundesregierung könnte zum Beispiel Gespräche zwischen der Türkei und der Selbstverwaltung vermitteln. (...) Deutschland könnte die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien und die Türkei an einen Tisch bringen, für eine friedliche Lösung“, so Davrisch. Die Angst vor einem Wiedererstarken des „IS“, der Konflikt mit der Türkei und das Erdbeben: Es klingt fast wie ein Euphemismus, wenn Davrisch von einer „krisengeschüttelten Region“ spricht, die dringend Hilfe benötigt. (Alexander Eser-Ruperti)