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Die Schweizer Neutralität verliert an Sinn – doch „Pazifismus“ und „Woke“-Schelte stärken ein Bollwerk

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Von: Foreign Policy

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Die Weigerung der Schweiz, in der Ukraine Partei zu ergreifen, nützt vor allem Russland. Doch Zweifel an der Neutralität gibt es nur hinter vorgehaltener Hand.

Die Schweiz hat eine Vergangenheit, in der sie mit den Nazis Handel trieb, als Steuerparadies für die korrupten Beamten der Welt diente und in der Weltpolitik eine moralische Vormachtstellung beanspruchte. Das liegt an der Tradition der Neutralität, die bis ins Jahr 1500 zurückreicht und im Haager Abkommen von 1907 festgeschrieben wurde. In internationalen Konflikten hat sie vorzugsweise Luxushotels in hohen Bergen als Schauplatz für Friedensgespräche zur Verfügung gestellt. 

Doch der Einmarsch Russlands in die Ukraine und das anhaltende Beharren der Schweiz darauf, nicht in einen Krieg verwickelt zu werden, der ganz Europa bedroht, hat westliche Länder irritiert, die zuvor die Neutralitätsansprüche akzeptiert hatten. In den westlichen Hauptstädten wächst die Kritik daran, wie leicht es Bern in all den Jahren gehabt hat. 

Schweiz stimmte Russland-Sanktionen zu - doch der Blick wandert auch gen Oligarchen-Geld

Zu Beginn des Ukraine-Krieges im vergangenen Jahr stimmte die Schweiz der Verhängung von Sanktionen gegen Russland zu. Dazu gehörten das Einfrieren von Vermögenswerten russischer Oligarchen, die Sperrung des Luftraums für russische Flugzeuge und die Verhängung eines Reiseverbots für einige Männer aus dem Umfeld des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Das wurde als Wendepunkt in der Schweizer Außenpolitik gefeiert, aber westliche Diplomaten sagen, Bern hätte viel mehr tun müssen. 

Scott Miller, der US-Botschafter in Bern, sagte, die Schweiz könne das Einfrieren von Vermögenswerten russischer Oligarchen ohne weiteres von 8 auf 109 Milliarden USD erhöhen. Er forderte die Schweizerinnen und Schweizer auf, ihre Neutralität zu überdenken. Sie sei kein „statisches Konstrukt“. Die Schweiz könne sich nicht als neutral bezeichnen und zulassen, dass eine der beiden Seiten diese Position ausnutze, fügte Miller hinzu und deutete an, dass Russland genau dies tue.

Doch trotz des Drucks aus dem Westen überdenkt Bern seinen neutralen Status nicht und nimmt auch keine wesentlichen Änderungen vor. Die einzige Gesetzesänderung, die in Betracht gezogen wurde, ist eine Änderung des bestehenden Gesetzes, die es Drittländern ermöglichen würde, Schweizer Waffen und Munition auszuführen

Deutschland zürnt der Schweiz: Gepard-Munition für die Ukraine hängt fest

Deutschland, Spanien und Dänemark, die in der Schweiz hergestellte Waffen zur Verstärkung der ukrainischen Verteidigung liefern möchten, wurden bisher durch das Bundesgesetz über Kriegsmaterial daran gehindert. Dieses Gesetz verbietet die Wiederausfuhr in ein Land, das sich in einem bewaffneten Konflikt befindet, ohne dass diese Wiederausfuhr von der Schweizer Regierung genehmigt wurde. Im Januar sagte der deutsche Botschafter in der Schweiz, Michael Flügger, dass Bern andere europäische Staaten effektiv daran hindere, der Ukraine zu helfen. 

Er bezeichnete die Position der Schweiz als „unverständlich“. Das deutsche Verteidigungsministerium hat sich an die Schweiz gewandt und um mehr als 12.000 Stück 35-Millimeter-Munition aus Schweizer Produktion für Gepard-Luftabwehrpanzer gebeten, die die Ukraine zum Schutz ihrer Städte vor russischen Drohnenangriffen benötigt. Ein deutsches Unternehmen hat inzwischen damit begonnen, die Munition selbst herzustellen, aber deutsche Diplomaten machen ihrem Unmut Luft

Anfang dieses Monats diskutierte das Schweizer Parlament einen ersten Vorschlag, der die Wiederausfuhr in die Ukraine erlaubt hätte, wenn es sich bei den Lieferanten um gleichgesinnte Länder handelt. Er wurde jedoch von einer Mehrheit abgelehnt. Die Abstimmung zeigt, wie stark die Neutralität der Schweiz verankert ist, auch wenn sie auf Kosten eines um seine Unabhängigkeit kämpfenden Landes geht. 

Kommt die Neutralität an ihre Grenzen? „Schweiz wird sie nicht grundsätzlich überdenken“

„Die Schweiz wird ihre Neutralität nicht grundsätzlich überdenken, denn sie hängt nicht von der Art des Konflikts ab, nicht davon, ob jemand auf der richtigen oder der falschen Seite steht“, sagte Laurent Goetschel, Direktor des Schweizerischen Friedensforschungsinstituts und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel. Die verschiedenen politischen Parteien der Schweiz hätten unterschiedliche Gründe, den neutralen Status zu schützen, erklärte er am Telefon Foreign Policy. „Die Populisten in der Schweiz wollen an einer orthodoxen Auslegung der Neutralität festhalten, weil dies den Interessen des Landes besser entspricht“, erklärt er.„Viele der Linken und der Grünen wiederum sind Pazifisten.“

Bei den Rechten könnte sich allerdings hinter der Unterstützung der Neutralität eine aktive Sympathie für Putin verbergen. In seiner jüngsten Rede zum ersten Jahrestag der Invasion in der Ukraine beschuldigte Putin den Westen, die Institution der Familie sowie die „kulturelle und nationale Identität“ zu zerstören, indem er „Priester zwingt, gleichgeschlechtliche Ehen zu segnen“ und die Idee eines geschlechtsneutralen Gottes in Erwägung zieht. Die Äußerungen waren maßgeschneidert, um rechtsextreme Politiker in ganz Europa zu ködern, die gegen progressive Werte sind. 

Dazu gehören auch die Führer der populistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP), der größten Partei im Schweizer Parlament. Sie fordern eine strenge Auslegung der Schweizer Neutralität im Ukraine-Krieg und sind maßgeblich daran beteiligt, die Lieferung von Waffen aus Schweizer Produktion an die Ukraine zu blockieren. „Man kann nicht ein bisschen neutral sein“, sagte Yves Nidegger, SVP-Mitglied und Mitglied der Aussenpolitischen Kommission der Schweiz. In sozialen Fragen scheint er mit dem russischen Präsidenten auf einer Linie zu liegen. Kürzlich postete er auf Facebook die Parodie eines Pink-Floyd-Songs und erklärte: „Wir brauchen keine ‚woke‘ Bildung“.

Schweiz und der Ukraine-Krieg: Rechte SVP sieht Putin als Verbündeten im Kampf gegen „Woke-Kultur“

Roger Köppel, ebenfalls SVP-Mitglied und Chefredakteur der rechtsextremen politischen Wochenzeitung Weltwoche, wird in den hiesigen Medien als Putin-Sympathisant und Russlandfreund bezeichnet. Er glaubt, dass der russische Präsident verunglimpft wird, weil er „für Männlichkeit steht“ und prophezeit, dass Putin der Schock sein könnte, den der Westen braucht, um wieder zur Vernunft zu kommen.

Das Schweizer Bankgeheimnis ist ihm wichtiger als die Aufdeckung von Steuerbetrug: Der Schweizer Roger Köppel.
Das Schweizer Bankgeheimnis ist ihm heilig: Der Journalist und Verleger Roger Köppel. © picture alliance / dpa

Solche Äußerungen zeigen, dass die SVP in Putin einen Verbündeten sehen könnte, wenn es darum geht, ihre gesellschaftlichen Werte zu propagieren. Goetschel sagte, dass sich einige Führer der extremen Rechten mit Putin identifizieren, „weil er eine ähnliche Haltung gegenüber LGBTQ und der Woke-Kultur einnimmt“. Wie andere populistische Parteien in Europa ist auch die SVP der Ansicht, dass Russland ein Gegengewicht zu Washington bildet.

In Zusammenarbeit mit Pro Schweiz hat die SVP eine Initiative zur Wahrung der schweizerischen Neutralität lanciert, die per Volksentscheid eine strenge Definition der Neutralität in der Schweizer Verfassung verankern will. Im Falle einer Verabschiedung würde der Schweiz der Beitritt zu einem Verteidigungsbündnis wie der NATO untersagt, es sei denn, das Land wird direkt angegriffen. Wenn 50.000 Unterschriften gesammelt werden, muss darüber abgestimmt werden, sagte Fabian Molina, ein Schweizer Politiker der linksgerichteten Sozialdemokratischen Partei. „Die SVP will die Schweizer Neutralität verteidigen, um die Wirtschaftsaußenpolitik der Schweiz zu verteidigen. Die Schweizer sind in den letzten hundert Jahren sehr reich geworden, weil sie zu nichts Stellung nehmen mussten, sondern eine Offshore-Plattform für manchmal fragwürdige Geschäfte waren. Wir haben zwei Weltkriege überlebt und vom Handel mit den Nazis profitiert“, fügte er hinzu. 

Schweizer Präsident warnte vor „Kriegsbegeisterung“: „Pazifismus Teil der DNA“

Während Molina erklärte, seine Partei unterstütze die Wiederausfuhr von Schweizer Waffen, sagte Alain Berset, der Schweizer Bundespräsident, der derselben Fraktion angehört, dies sei im derzeitigen Rechtsrahmen nicht möglich. Er warnte vor „Kriegsbegeisterung“ und sagte, Schweizer Waffen dürften nicht in einem Krieg eingesetzt werden. „Pazifismus hat im Moment einen schlechten Ruf, aber Krieg ist nicht Teil der Schweizer DNA“, betonte er in einem Interview. 

Der Kreml ist jedoch der Nutznießer der pazifistischen Ideologie in Europa. Obwohl Berset seine Bemerkung über die Kriegsbegeisterung zurückzog, griff der russische Botschafter in der Schweiz diese schnell auf und nutzte die Gelegenheit, die Vereinigten Staaten erneut als „Hegemon“ zu bezeichnen, der sich weigert, eine multipolare Welt zu akzeptieren. Antiamerikanismus und Whataboutismus sind sowohl bei Populisten als auch bei Pazifisten in Europa beliebt, und die Menschen misstrauen den Absichten der USA immer noch, weil diese in den Irak einmarschiert sind. Der Krieg Russlands in der Ukraine hat jedoch nichts mit dem Irak zu tun und wurde von den Vereinten Nationen mit überwältigender Mehrheit verurteilt. 

Mindestens vier oder fünf weitere Rechtsvorschläge sind anhängig, darunter eine sogenannte Lex Ukraine, die eine einmalige Übergabe von Material an Kiew ermöglichen würde. Ein Antrag, der von einigen Schweizer Politikern eingebracht wurde, besagt, dass die Schweizer Regierung die Reexportklausel aufheben könnte, wenn Waffen in einen Konflikt geliefert werden, der von zwei Dritteln der UN-Generalversammlung als völkerrechtswidrig verurteilt wird. 

Bei Russland wird es politisch: Schweiz drückte bisweilen ein (Rüstungs-)Auge zu

Ein Regierungsbeamter sagte Foreign Policy unter der Bedingung der Anonymität, dass es rechtlich möglich sein sollte, „die Neutralität aufrechtzuerhalten und dennoch Drittländer mit Schweizer Waffen beliefern zu lassen“. Mindestens zwei Beobachter der Schweizer Rüstungsindustrie, ein Regierungsbeamter und ein in der Schweiz ansässiger Militärexperte aus einem europäischen Land, erklärten, dass die Schweiz bei Kriegen in ärmeren Ländern einfach ein Auge zugedrückt habe, wenn es um den Re-Export ihrer Waffen ging, aber jetzt, da Russland involviert sei, sei die Debatte politischer geworden.

Schweizer Waffen sind in Afghanistan gelandet und Schweizer Sig Sauer 551 Sturmgewehre werden von saudischen Streitkräften im Jemen eingesetzt, unter anderem gegen Zivilisten. Einem Forschungsbericht zufolge finden sich Schweizer Komponenten auch in einigen der modernsten russischen Militärsysteme. 

Die eklatante Doppelmoral der Schweiz wirft die Frage auf, ob die Neutralitätsdoktrin überhaupt noch haltbar ist. Benno Zogg, ein ehemaliger leitender Forscher des Zürcher Think Tanks Center for Security Studies und jetziger Leiter des Bereichs Strategie und internationale Angelegenheiten im Schweizer Verteidigungsministerium, schrieb ein Forschungspapier über die Schweizer Neutralität. Er sagte, dass einige glauben, die Neutralität sei in der Schweizer Identität verankert, aber er zeigte auch die andere Seite. „Im Gegensatz dazu hat der Kern der Neutralität – im Wesentlichen die Enthaltung in einem zwischenstaatlichen Krieg – im Staatssystem des 21. Jahrhunderts viel von seiner Bedeutung verloren“, schrieb er, „da nichtstaatliche Akteure und Bedrohungen immer häufiger auftreten und die Staaten zunehmend voneinander abhängig sind.“

Von Anchal Vohra

Anchal Vohra ist ein in Brüssel ansässiger Kolumnist für Foreign Policy und schreibt über Europa, den Nahen Osten und Südasien. Sie hat für die Times of London über den Nahen Osten berichtet und war als Fernsehkorrespondentin für Al Jazeera English und die Deutsche Welle tätig. Sie war zuvor in Beirut und Delhi tätig und hat aus über zwei Dutzend Ländern über Konflikte und Politik berichtet. Twitter: @anchalvohra

Dieser Artikel war zuerst am 24. März 2023 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung.

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