Wir sprechen hier nicht von der gesamten Generation, sondern in etwa von einem Drittel, das sich nicht von seinen Kriegserlebnissen erholt hat. Dennoch kann man beruflich sehr erfolgreich gewesen sein, hat aber Probleme mit engen Beziehungen. Am besten, ich gebe Auffälligkeiten von ehemaligen Kriegskindern wieder, die mir deren Kinder immer wieder nannten: Den Eltern lag und liegt an einem überschaubaren Alltag, eine Veränderung der Lebensumstände setzt sie enorm unter Stress. Zukunftsthemen wie die eigene Pflegebedürftigkeit weichen sie aus wie auch den Gelegenheiten, die Welt der Jüngeren zu betreten. Das alles ängstigt sie. Sie sind in der Regel wenig reflektiert, verfallen schnell in Schwarz-Weiß-Denken und ihr Bedürfnis nach materieller Sicherheit ist hoch. Das Klima in den Familien wurde mir häufig als unlebendig beschrieben, meistens mit dem Zusatz: „Ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen.“
Die Kriegskinder brachten das aber gar nicht mit ihren Kriegserlebnissen in Verbindung?
Die Kriegskinder nannten sich „Nachkriegskinder“. Sie waren nicht der Meinung, sie als Generation hätten ein nennenswertes gemeinsames Schicksal. „Unsere Eltern ja“, so wurde mir oft gesagt, „die hatten Schlimmes erlebt, aber wir doch nicht: Wir waren Kinder! Das war für uns normal!“ Diese „gefühlte Normalität“ blieb fast über das ganze spätere Leben bestimmend. Über etwas, was normal ist, muss man sich nicht den Kopf zerbrechen.
In vielen Familien wurde über die traumatischen Erlebnisse geschwiegen. In einem Ihrer Bücher heißt es: „Man funktionierte, baute auf, fragte wenig, jammerte nie, wollte vom Krieg nichts hören.“ Viele Kriegskinder brechen erst heute, nach mehr als 70 Jahren, ihr Schweigen – könnte dies auch eine späte Nachwirkung von 68 sein?
Nein. Wenn heute altgewordene Kriegskinder ihr Schweigen brechen, dann deshalb, weil im Alter die Kindheit wieder näher rückt und sie die Erinnerungen an Schrecken, Verluste und Gewalt nicht mehr länger auf Abstand halten können. In Emails wird mir dies als ein schmerzhafter Prozess beschrieben, an dessen Ende jedoch ein Gewinn steht. Da steht dann zum Beispiel: „Ich fühle mich wie aus einer Betäubung erwacht.“ Wer dagegen seine eigenen seelischen Kriegsverletzungen weiterhin wegdrängt, verfestigt womöglich das Gefühl, immer noch Opfer zu sein, und verhindert, mit seinem eigenen Schicksal Frieden zu schließen.
Viele berühmte 68er sind Kriegskinder: Rudi Dutschke, Rainer Langhans, Fritz Teufel, KD Wolff, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wie stark, glauben Sie, haben die eigenen Kriegserfahrungen sie in ihrem Aufbegehren geprägt – oder es sogar erst möglich gemacht?
Wohl eher die Nachkriegserfahrungen. Die von Ihnen genannten Personen wurden wie so viele im Krieg geboren und hatten daher keine oder fast überhaupt keine Erinnerung an NS-Zeit, Krieg und Vertreibung. Im Unterschied zu den älteren Geschwistern, die unermüdlich zum Überleben der Familie beitrugen, spielten die Jungs in den Trümmern. Kleine Vandalen schlugen kaputt, was schon kaputt war. Die rabiaten Streiche der Landkinder standen dem in nichts nach. Also weitgehend eine unbeaufsichtigte Kindheit voller Abenteuer, die sie stärkte. Ein Ausgleich zu der strengen, teilweise auch gewalttätigen Erziehung im Elternhaus. Ich glaube, in der 68er-Bewegung konnten viele Studenten mit kindlicher Lust an der Regelverletzung auf ihr frühes Rabaukentum zurückgreifen.
Haben Sie in diesem Zusammenhang auch Erfahrungen mit der 68er-Generation gemacht?
Als ich Mitte der 1990er Jahre begann, das Thema „deutsche Kriegskinder“ zu recherchieren, bekam ich den meisten Gegenwind von den ehemaligen Aktiven der Studentenrevolte. Vor allem empörte sie, dass ich hierfür bewusst nur die Kriegsfolgen in den Blick nahm und nicht gleichzeitig die NS-Zeit und den Holocaust. Typisch war die Reaktion eines Lehrers, der 1940 in Berlin geboren wurde. Er ging sofort zum Angriff über: Wie ich dazu käme, Kriegszeit und Nazizeit zu trennen? Das sei doch unmöglich! Ob ich etwa die Seiten gewechselt hätte? Ginge es mir jetzt darum, die Deutschen als Opfer zu stilisieren? Ich fragte zurück: „Hast du dich später nur mit den Schrecken des Nationalsozialismus beschäftigt – aber nicht mit deiner eigenen Kriegskindheit?“ – „Genau. Der Krieg war vorbei, als ich fünf Jahre alt war. Ehrlich, du nervst mit den alten Geschichten ...“
Sie glauben also nicht, dass es denen, die an 68 aktiv teilgenommen und aufbegehrt haben – auch gegen ihre Väter, die für die Verbrechen des Dritten Reiches verantwortlich waren – heute besser geht als jenen, die das Schweigen „mitgemacht“ haben? Diente 68 also auch der Überwindung des eigenen Traumas?
Ich denke, es führte unbewusst zur Verdrängung des eigenen Traumas. Viel entscheidender waren ja die unfassbaren Verbrechen des Holocaust. Wenn ich daran zurückdenke, an die vielen Gespräche in Wohngemeinschaften, erinnere ich mich vor allem an unser Entsetzen darüber, dass die Eltern, wenn wir sie auf den Holocaust ansprachen, im Unterschied zu uns kaum je tiefe Erschütterung zeigten. Das führte zu einer stummen Frage, zu einer, man könnte fast sagen, Urangst, die viele Kinder von Soldatenvätern teilten: War mein Vater ein Massenmörder? Eine Entwarnung gab es nicht. Die Väter haben weiter geschwiegen und die Söhne und Töchter haben nicht geforscht. Es ging auch nicht, vor 50 Jahren waren die Archive nicht zugänglich. Aber auch später haben nach meiner Einschätzung die älter gewordenen 68er eher selten geforscht. – Auch mich selbst hat 1968 geprägt, und wenn es sich ergibt, sage ich in meinen Lesungen, ohne diese aufsässigen Jahre wäre ein politisches Klima entstanden, in dem nicht einmal Helmut Kohl sich wohlgefühlt hätte.
Sie sagen, dass die traumatischen Kriegserfahrungen auch in denjenigen „weiterleben“, die sie nur „geerbt“ haben – also in der Generation der Kriegsenkel, die zwischen 1960 und 1975 geboren sind. Können Sie bitte kurz erklären, wie Sie dieses „geerbte Trauma“ verstehen?
Vielen Kriegskindern wurde schon früh im Leben immer wieder der Boden unter den Füßen weggezogen. Im Kern geht es also um mangelndes Vertrauen ins Leben. Wer kein Vertrauen ins Leben hat, kann es seinen eigenen Kindern auch nicht weitergeben. Er kann ein kleines Kind nicht wirklich trösten, so dass es innerlich ruhig wird, so jemand kann nur beschwichtigen.
Sie schreiben, die Kriegsenkel-Generation präge ein Gefühl tiefsitzender Verunsicherung. Sind diejenigen, deren Eltern 1968 aufbegehrten, die glücklicheren, die weniger belasteten Kriegsenkel?
Nein, aber sie sind auch nicht mehr belastet als andere.
Noch einmal zurück zu dem Schweigen, das in so vielen Familien geherrscht hat und noch bis heute herrscht: Glauben Sie, daraus könnte eine Art „emotionale Taubheit“ entstanden sein, aus der ein Gefühl der Vernachlässigung, des Zu-Kurz-Gekommenseins erwächst – das wiederum Nährboden für Rechtspopulisten wie die AfD ist?
Das Schweigen zu brechen, ist erst der Anfang. Es reicht ja nicht, seine Familiengeschichte zu kennen. Man muss als Nachkomme auch die Legenden enttarnen, die das Mitwirken oder Profitieren im NS-Regime verschleiern. Kriegskinder haben oft ihren Eltern versprochen, zu schweigen, um den guten Namen der Familie zu schützen. Aber gravierende Geheimnisse, auch wenn es um Kriegstraumata oder Vergewaltigung geht, können die Nachkommen untergründig schwer belasten. Das Erbe kann bedeuten: Jemand fühlt sich auf irrationale Weise für alles Mögliche schuldig, oder jemand fühlt sich auf irrrationale Weise als Opfer. Das persönliche Versagen liegt in diesem Fall stets außerhalb der eigenen Person und – noch wichtiger – außerhalb der Familie. Daraus resultiert dann das Gefühl des Zu-Kurz-Gekommenseins, und daran muss schließlich jemand schuld sein.
Daher die Anfälligkeit für Populismus?
Ja, dies war meine große Sorge und eben auch Motivation für mein Kriegskinderbuch, das 2004 erschien. „Große Opfergruppen in der Gesellschaft gefährden die Demokratie“, steht da. Und weiter: „Wer in seiner Opferrolle verharrt, bereitet auch seine Kinder und Kindeskinder darauf vor.“ Kürzlich hatte ich eine Lesung in der rheinischen Provinz. Im anschließenden Austausch sagte eine ältere Frau: „Das ist ja alles interessant, aber ich fühle mich nicht als Kriegskind.“ Danach stand ein Altersgenosse auf und fragte in die Runde: „Was mich interessiert: Wer fühlt sich als Opfer?“ Da hob die Hälfte der älteren Besucher die Hand.
Interview: Tanja Kokoska