Schutzlos in der Hitze von Kara Tepe – mehr als 6000 Geflüchtete im Lager auf Lesbos
Mehr als 6000 Menschen hausen im Lager für Geflüchtete Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos. Khalid Alafat ist einer von ihnen, sein Schicksal ist besonders hart.
Lesbos – Wir treffen Khalid Alafaat zum ersten Mal dort, wo er seit anderthalb Jahren leben muss: im Lager für geflüchtete Menschen in Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos. Schon jetzt, Ende Mai, steigt die Temperatur weit über 30 Grad. Es gibt kaum Bäume oder Unterstände im Lager, um Schutz vor der Hitze zu suchen. Kein fließendes Wasser. Keinen Strom. Und vor allem: keine Perspektive für Menschen wie Alafaat. „Ich bin müde“, sagt er. „Ich warte, ich warte. Nichts passiert.“
Den Bereich, in dem der 33-jährige Syrer lebt, zeigt die Leiterin der Einrichtung, Astrid Castelein vom Geflüchtetenhilfswerk UNHCR, lieber als andere Abschnitte. Hier stehen nicht wie sonst Zelte, die Hitze, Wind und Wetter völlig ausgeliefert sind, sondern wenigstens Container.
Lager Kara Tepe auf Lesbos: Trostloser Ort für Geflüchtete – 56 weiße Container
Es sind 56 weiße Container mit der Aufschrift „Isobox“ für Menschen, die in der Sprache der Geflüchtetenpolitik als „most vulnerable“ bezeichnet werden, als „besonders verwundbar“: Geflüchtete mit auffälligen psychischen Erkrankungen, hochschwangere Frauen oder Menschen mit schweren körperlichen Beeinträchtigungen. Menschen, für die dieser trostlose Ort völlig ungeeignet ist.
Khalid Alafaat ist ein schmaler Mann mit kurzen schwarzen Haaren unter der schwarzen Baseballkappe und einem gepflegten Bart unter der Corona-Maske. In Kara Tepe kommt er mit seinem Rollstuhl auf die Besuchergruppe aus Deutschland zu, um seine Geschichte zu erzählen. Alafaat ist auf den Rollstuhl angewiesen, weil er nicht laufen kann. In Syrien, seinem Heimatland, krachte die Decke auf seinen Kopf, als eine Bombe ins Haus einschlug. Khalid Alafaat trug schwere Verletzungen davon. Eine spastische Lähmung führt dazu, dass er außer dem linken Arm keine Gliedmaßen bewegen kann. Zudem erleidet der Syrer immer wieder epileptische Anfälle.
Corona im Lager Kara Tepe auf Lesbos: Abgesondertes Quarantänecamp
Wenn Khalid Alafaat die Behindertentoilette des Lagers aufsuchen will, muss er Freunde bitten, ihn zu begleiten. Alleine könnte er nicht aufs Klo gehen. Es muss ein ungeheurer Kraftakt gewesen sein für den beeinträchtigten Mann, überhaupt bis hierherzukommen. Freunde haben ihn gestützt und teilweise getragen, bis sie an der iranisch-türkischen Grenze getrennt wurden. Wie genau er den Rest der gefährlichen Reise geschafft hat, weiß nur Khalid selbst. Seine Frau ist bei ihm, seine beiden Kinder wurden auf der Flucht geboren. Tochter Khadeja ist jetzt anderthalb Jahre alt, der kleine Radi drei Monate.
Als wir Khalid zum ersten Mal begegnen, ist nicht viel Zeit für ein Gespräch. Die Gruppe, eine kleine Delegation aus Linken-Politiker:innen und zwei Journalisten, will sich einen Eindruck von der Lebenssituation in Kara Tepe verschaffen.
Am Anfang des Weges laufen wir am trostlosesten Teil des Lagers vorbei, in dem Geflüchtete mit positivem Corona-Test leben müssen, mit einem Zaun abgetrennt vom restlichen Lager. Zelte, weißer Schotter, ein paar einfache Holzbänke – sonst gibt es dort nichts. Die Hitze setzt den infizierten Menschen besonders zu. Derzeit seien 102 Menschen dort abgesondert, berichtet Astrid Castelein. Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass es deutlich mehr Corona-Fälle im Lager geben könnte. Die Menschen mieden die Tests, um bloß nicht in diesem Quarantänecamp abgesondert zu werden.

Lesbos: Geflüchtete beklagen Situation im Lager Kara Tepe
Vor wenigen Tagen haben Gruppen von Geflüchteten die Situation in einem offenen Brief beklagt. Die bedrohliche Covid-19-Situation eskaliere im Lager, schrieben sie darin. „Während Griechenland nun seine Grenzen für die Urlaubssaison öffnet, verschlechtert sich unsere Situation im Lager zusehends.“ So seien etwa alle Bildungsangebote für Kinder wegen Corona ausgesetzt worden.
Manche Teile von Kara Tepe könnte man auf den ersten Blick für ein Urlaubsziel halten, wenn nicht die Zeltstadt mit den UNHCR-Logos wäre. Sie liegen direkt am Strand mit Blick auf das blaue Meer und die gegenüberliegende türkische Küste.
Lager Kara Tepe: Der Hitze auf Lesbos ausgesetzt
Was für Urlaubsgäste ein Vorteil wäre, hat sich jedoch für die geflüchteten Menschen als Katastrophe erwiesen. Die Aussicht auf das Meer, das sie unter großen Gefahren in Schlauchbooten überwunden haben, hat für sie nichts Romantisches. Am Strand sind die Zelte den Stürmen ausgeliefert und dem Wasser. Als der Regen im Winter kam, lief die ganze Zeltstadt voll - die Wege zu den Dixi-Toiletten standen unter Wasser, in den Zelten lagen die Matratzen und Decken der Menschen im Matsch.
Jetzt brennt die Sonne auf den Strand herunter, Staub liegt in der Luft, der Lärm von Bauarbeiten für eine Abwasserleitung. Die Besuchergruppe verlässt nach anderthalb Stunden erschöpft das Lager und sehnt sich nach einem Schluck Wasser. Alafaat und seine mehr als 6000 Mitbewohnerinnen und -bewohner müssen bleiben. Sie dürfen das Lager nur einmal pro Woche verlassen. Und auch das nur mit Begründung und nach einem Corona-Test.
Kara Tepe auf Lesbos: „Es ist die Hölle“
Später sehen wir Khalid Alafaat wieder. Die Hilfsorganisation „Leave No One Behind“ hat ihn und andere Menschen aus dem Lager eingeladen, ihre Situation zu schildern. Dafür hat sich Khalid abholen lassen von Fabiola Velazques, einer Physiotherapeutin aus Chile, die seit Jahren für „Leave No One Behind“ tätig ist. Für viele Menschen mit Beeinträchtigungen ist ihre Tätigkeit die einzige Möglichkeit, eine Behandlung zu bekommen.
In einer Halle nahe dem Lager, wo sich an den Wänden Kartons mit Hilfsgütern stapeln, schildern Betroffene ihre harten Schicksale. Khalid Alafaat schreibt das Datum seiner Ankunft mit der linken Hand für den Journalisten aus Deutschland auf einen Zettel: 3. Dezember 2019. Anderthalb Jahre. Solche Wartezeiten sind hier keine Seltenheit. Auch die ältere Frau aus Somalia, die ihren Kopf auf die Arme stützt, verzweifelt. Sie kann nur mühsam und auf Krücken laufen. Seit zwei Jahren sitzt sie in Lesbos fest, ohne Aussicht auf Besserung. „Es ist die Hölle“, sagt sie – und man merkt, dass sie das genau so meint. Die Hoffnungen, die sie in Europa setzen, sind gering, doch immer noch groß genug, dass sie zum Gespräch gekommen ist. „Wenn ihr etwas tun könnt, bitte tut es“, ruft sie zum Abschied. (Pitt v. Bebenburg)