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„Der Typ, der meinem Kind Gewalt antut, kann abends mit mir am Grill stehen“

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Von: Jana Ballweber

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Kind mit Smartphone
Im Netz lauern viele Gefahren, vor allem für Kinder. © Robert Michael/dpa

Experte Joachim Türk über die Verhältnismäßigkeit der geplanten Regelungen und Gefahren für Kinder in ihrer engsten sozialen Umgebung.

Herr Türk, die EU möchte den Kampf gegen die Darstellung sexualisierter Gewalt an Kindern verstärken, indem sie die private Kommunikation aller Bürger:innen durchleuchtet. Was halten Sie davon?

Zunächst muss man sagen, dass im Papier der EU-Kommission ganz viele verschiedene Maßnahmen vorgesehen sind. Die meisten davon finde ich klasse: mehr Prävention, mehr Aufklärung, Stärkung der Ermittlungsbehörden. Das halten wir vom Kinderschutzbund alles für sehr sinnvoll. Aber die Chatkontrolle ist nicht verhältnismäßig. Der Eingriff in die Privatsphäre ist zu tief. Bevor das gerechtfertigt wäre, müssten vorher eine ganze Menge anderer Dinge besser gemacht werden als heute.

Zum Beispiel?

Wir müssen viel mehr in die Prävention investieren. Das Thema muss in die Schulen. Kinder, Eltern und Lehrer:innen müssen viel besser aufgeklärt werden und dafür sensibilisiert sein. Wir brauchen Schutzkonzepte, Anlaufstellen, denen betroffene Kinder vertrauen können. Das ist ein Kraftakt, das ist mühsam, aber es ist das einzige, was nachhaltig hilft.

Ich finde es einen Skandal, dass es nirgendwo in Deutschland eine fälschungssichere Altersverifikation gibt.

Joachim Türk

Heißt das, dass man das Internet und die private Kommunikation in Ruhe lassen sollte?

Nein. Eins ist ganz klar: Wir vom Kinderschutzbund stellen Datenschutz nicht über Kinderschutz. Wir sind auch nicht gegen Ermittlungen im Internet. Dass beispielsweise Betreiber von Plattformen und Servern verpflichtet werden sollen, hochgeladenes Material zu scannen, finde ich gut. Und wenn es einen konkreten Verdacht gegen eine Person gibt, sollte auch die private Kommunikation nicht tabu sein.

Das hieße aber, dass die Verschlüsselung der Nachrichten umgangen werden muss, oder?

Wenn man sich anschaut, was im Internet alles an organisierter Kriminalität passiert, glaube ich, dass wir irgendwann eine gesellschaftliche Diskussion über Verschlüsselung führen müssen. Ich wehre mich aber dagegen, dass dieser Streit am Beispiel der Kinder ausgetragen wird. Außerdem kann man auch schon viel herausfinden, ohne sich den Inhalt der Kommunikation anzuschauen. Wenn ein Kind beispielsweise mit einer Handynummer kommuniziert, die die Eltern nicht kennen, und diese Nummer unabhängig davon mit vielen anderen Kindern in Kontakt steht und von ihnen Bilder erhält, könnte das zum Beispiel darauf hinweisen, dass da nicht alles mit rechten Dingen zu geht.

Dafür müsste man ja aber wissen, dass da gerade ein Kind kommuniziert.

Ja, das stimmt. Ich finde es einen Skandal, dass es nirgendwo in Deutschland eine fälschungssichere Altersverifikation gibt. Wenn es das gäbe, wären noch andere Schutzmechanismen denkbar. Dass Nacktbilder auf Geräten von Kindern beispielsweise erkannt werden und es eine Warnung erhält und sich entscheiden kann, ob es das Bild anschauen möchte oder nicht. Und dass es auch gewarnt wird, falls es selbst Nacktbilder von sich verschicken will.

Zur Person

Joachim Türk (64) ist seit drei Jahren Vorstandsmitglied beim Deutschen Kinderschutzbund. Dort ist er für Fragestellungen rund um das Internet und die Digitalisierung zuständig. Vorher war Türk Journalist und hat unter anderem als Chefredakteur die Rhein-Zeitung geleitet. jaba

Das löst ja aber nicht das Problem, dass Täter:innen Nacktbilder von Kindern untereinander hin- und herschicken.

Das stimmt. Aber es reduziert insgesamt die Menge an Bildmaterial von nackten Kindern. Was viele nicht wissen: Unter Täterinnen und Tätern, meistens sind es Täter, sind solche Bilder Tauschware. Neues Material bekommen sie nur, wenn sie im Gegenzug auch etwas anzubieten haben. Und dann landet das Badewannen-Bild, das arglose Eltern in einer WhatsApp-Gruppe mit Bekannten geteilt haben, plötzlich bei Pädokriminellen. Und wenn sie keine Bilder mehr zum Tauschen haben, fangen sie dann an, aktiv welche zu produzieren. Das ist für viele der Einstieg ins Dasein als Täter. Deshalb können wir das Problem auch nicht einfach nur ins Internet verlegen.

Was wäre denn abseits vom Internet nötig?

Wir brauchen ein viel stärkeres Bewusstsein, wie oft und wo Kinder sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass in Deutschland in jeder Klasse ein bis zwei Kinder sitzen, die das schon mal erlebt haben. Und in den meisten Fällen passiert das im sozialen Nahbereich. Das Kind wird vom Onkel seltsam angefasst oder vom Nachbarn beim Baden im Garten fotografiert. Eltern müssen sich darüber im Klaren sein, dass der Typ, der meinem Kind Gewalt antut, abends mit mir am Grill stehen kann.

Interview: Jana Ballweber

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