Schul-Drama
Birthe Hansen, Jahrgang 1930, war 10, als Dänemark von Hitlers Truppen überfallen wurden. Ehe die fünf "dunklen Jahre", wie die Besatzungszeit in Dänemark heißt, vorbei waren, erlebte Kopenhagen am 21. März 1945 den Tag mit den meisten zivilen Opfern.
Von der ganzen Kriegszeit hat mich der Tag, an dem die französische Schule zerstört wurde, am meisten aufgewühlt, bis heute kann ich nicht darüber sprechen, ohne dass all der Schrecken wieder hochkommt. Ich war damals 15 und hatte gerade einen Platz bei einem Bäcker bekommen. Das war ein großes Glück, weil wir immer zu wenig zu essen hatten, obwohl meine Eltern beide in einer Fabrik arbeiteten. Beim Bäcker konnte ich abends altes Brot mitnehmen. Aber ich hatte viel Angst, einmal war die Gestapo gekommen und hatte den Laden durchsucht, der Bäcker und seine Frau mussten sich an die Wand stellen, und ich wusste, dass es in einem Schrank eine Geheimtür gab. Aber sie fanden nichts.
Oft schon hatte es Luftalarm gegeben, ohne dass etwas passierte. Jetzt hörte ich Flugzeuge tief über Kopenhagen fliegen, dann das laute Krachen von Explosionen, und wenig später sah ich Rauch hochsteigen. Ich wusste, dass es irgendwo brannte, aber ich wusste nicht wo. Doch bald kamen Menschen gelaufen mit Kindern im Arm, die schwer verletzt waren oder tot. Dann Fahrräder mit blutenden Kindern drauf, es gab damals Botenräder mit großer Ladefläche, dort lagen die zerfetzten Körper.
Später erfuhr ich, was geschehen war. Der Angriff der britischen Flieger galt dem Shell-Haus, in dem damals die Gestapo saß. Sie hatte dort ihre Archive über die Widerstandskämpfer, und deshalb hatte die Widerstandsbewegung London gebeten, das Haus anzugreifen und zu zerstören. Das hörten wir natürlich erst nach dem Krieg. Der Angriff kam von drei Staffeln. Die erste erreichte ihr Ziel und warf ihre Bomben ab, und das Gestapo-Hauptquartier brannte aus. Doch eines der Flugzeuge streifte beim Anflug einen Mast und stürzte ab. Die nachfolgenden Staffeln sahen den Rauch der brennenden Maschine, glaubten, dort sei ihr Ziel und warfen ihre Bomben ab. Aber es war nicht das Shell-Haus, das sie trafen, es war die französische Schule.
Als der Luftalarm ertönte, waren die Mädchen ganz ruhig in den Keller gegangen. Doch dann fielen die Bomben, Decken und Mauern stürzten ein und viele Kinder und Lehrer wurden eingesperrt. Aus den zerstörten Wasserleitungen der brennenden Etagen strömte kochend heißes Wasser in den Keller, sodass die Kinder ertranken oder verbrüht wurden. Man erzählte, dass eine Nonne unter einem Balken festgeklemmt lag und versuchte, die Kinder ins Freie zu dirigieren. Mehr als 100 Schülerinnen und Lehrer starben, nochmals so viele wurden verletzt. Und ich stand am Fenster des Bäckerladens und sah, wie die Opfer weggebracht wurden, und ich schrie und schrie und konnte gar nicht mehr aufhören. Bis ein Mann kam, ich weiß nicht wer, und mir eine Ohrfeige verpasste. Da kam ich wieder zu mir, und ich lief weg aus dem Laden, weil ich nur heim wollte, um zu sehen, dass meiner Familie nichts passiert war. Und Gott sei Dank: unser Haus war unversehrt.
Birthe Hansen, Kopenhagen
Aufgezeichnet von Hannes Gamillscheg
Serie: Das Tagebuch, FR-Leserinnen und Leser berichten 60 Jahre danach