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Wachablösung in Edinburgh

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Von: Sebastian Borger

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Der Sturgeon-Favorit Humza Yousaf hat kein leichtes Spiel.
Der Sturgeon-Favorit Humza Yousaf hat kein leichtes Spiel. © Craig Brough/afp

Die Scottish National Party wählt nach dem Rückzug von Nicola Sturgeon ein neues Parteioberhaupt. Das ist bedeutend leichter gesagt denn getan.

Edinburgh - Wenn die schottische Nationalpartei SNP an diesem Montag ihre Nachfolge-Lösung für die zurückgetretene Vorsitzende Nicola Sturgeon bekannt gibt, können hochfliegende Rhetorik und hübsche Plakate in der Parteifarbe Gelb nicht über die tiefe Besorgnis in den Parteirängen hinwegtäuschen. Mit der Dominanz in der schottischen Politik gehe es zu Ende, prophezeit James Kanagasooriam vom Marktforschungsinstitut Focaldata: „Die SNP könnte bald in richtigen Schwierigkeiten stecken.“

Humza Yousaf: Der „Kandidat der Kontinuität“

Allzu deutlich wurde in den Wochen seit Sturgeons überraschender Rückzugsankündigung, dass eine Ära sich dem Ende zuneigt. Das hat in erster Linie mit den großen Fußstapfen der Ministerpräsidentin zu tun, einem der größten Talente in der britischen Politik der vergangenen 20 Jahre. Niemand von den drei, die um ihre Nachfolge kämpfen, reicht auch nur annähernd an Sturgeons Format heran.

Als Favorit auf den Sieg in der Urwahl durch die rund 72.000 Parteimitglieder gilt der bisherige Gesundheitsminister Humza Yousaf. Er hat sich selbst zum „Kandidaten der Kontinuität“ ausgerufen; unübersehbar ruht die Gunst der Parteispitze um Sturgeon auf dem 37-Jährigen. In der Bevölkerung scheint hingegen eher die brutale Bewertung von Yousafs Hauptkonkurrentin, der bisherigen Finanzministerin Kate Forbes Anklang zu finden: Yousafs Wahl wäre gleichbedeutend mit „Mittelmäßigkeit“ und mangelnder Kompetenz, meint sie. Mit schöner Offenheit weist die Kabinettskollegin auch darauf hin, dass der Zustand des Gesundheitssystems ähnlich schlecht sei wie in England.

Als Justizminister war der praktizierende Muslim für die Neufassung eines Gesetzes zuständig, das beleidigende Äußerungen gegen Minderheiten unter Strafe stellte. Nach Protesten von Lobbygruppen, die eine Einschränkung der Meinungsfreiheit fürchteten, musste das Gesetz hastig ergänzt werden.

Herausforderung Forbes: „Ich glaube fest an die angeborene Würde jedes Menschen“

Die erst 32 Jahre alte Forbes gilt als politisches Talent, ihr Beliebtheitswert in der Bevölkerung liegt höher als Yousafs wie auch der dritten Bewerberin, Ex-Justizstaatssekretärin Ash Regan.

Doch sind viele Schottinnen und Schotten, nicht zuletzt die eher links stehenden Mitglieder der gemäßigt sozialdemokratischen Partei, misstrauisch gegenüber Forbes, die einer evangelikalen Freikirche angehört (Angelikale Eiferer ziehen auch eine blutige Spur durch Schottlands Geschichte). Sie halte Sex außerhalb der Ehe wie auch Abtreibungen für falsch, hat Forbes mitgeteilt; sie werde aber die geltenden Gesetze, darunter auch die Ehe für alle, verteidigen: „Ich glaube fest an die angeborene Würde jedes Menschen.“ Das klinge doch alles sehr rückständig gegenüber der „progressiven Mehrheitsmeinung“, kritisierte Sturgeon ihre Ministerin.

SNP (Schottische Nationalpartei)-Spitzenkandidatin Kate Forbes besucht die Zakariyya Masjid Moschee in Wishaw, North Lanarkshire, während ihrer Wahlkampftour.
SNP (Schottische Nationalpartei)-Spitzenkandidatin Kate Forbes besucht die Zakariyya Masjid Moschee in Wishaw, North Lanarkshire, während ihrer Wahlkampftour. © Jane Barlow/PA Wire/dpa

Progressiv war unter der Regentschaft von „Königin Nicola“ die Steuer- und Sozialpolitik. Einer Berechnung des Instituts für Fiskalstudien zufolge verfügt das ärmste Zehntel der Haushalte in Schottland über 658 Euro mehr als ihre Pendants in England und Wales. Finanzieren müssen dies die reichsten zehn Prozent der Haushalte: Sie stehen durchschnittlich 2937 Euro schlechter da als im britischen Süden. „Kinder aus der Armut zu befreien“, das sei die wichtigste Errungenschaft ihrer achtjährigen Amtszeit, sagt die Ministerpräsidentin.

SNP-Kritik

Von den Schattenseiten spricht die Opposition: Nach insgesamt 16 SNP-Regierungsjahren hinkt die Lebenserwartung der Bevölkerung um drei Jahre hinter England zurück; schottische Schüler:innen schneiden in Vergleichstests schlechter ab als junge Engländer oder Waliserinnen; die Zahl der Drogentoten liegt dreimal so hoch wie im Rest des Königreichs, womit Schottland den Spitzenplatz in Westeuropa einnimmt.

Blamiert hat sich die Partei mit dubiosen Finanzaffären und Halbwahrheiten gegenüber der Öffentlichkeit, für die mit seinem Rücktritt SNP-Generalsekretär Peter Murrell, im Privatleben Sturgeons Ehemann, die Verantwortung übernahm. Nicht nur ermittelt die Kriminalpolizei wegen Unregelmäßigkeiten in der Parteikasse. Wochenlang hatte der Generalsekretär auch behauptet, die Partei verfüge noch immer über mehr als 100.000 Mitglieder. Dabei haben binnen 14 Monaten rund 30.000 Schottinnen und Schotten die SNP verlassen.

Bei ihrem Hauptanliegen, der Auflösung der seit 316 Jahren bestehenden Union mit England und Wales, ist Sturgeon nicht vorangekommen. Das liege an ihrer allzu vorsichtigen Taktik, behaupten Kritiker:innen innerhalb und außerhalb der SNP. Aber welchen Weg hätte Sturgeon gehen sollen? Die Volksabstimmung von 2014 (Ergebnis: 55:45 für die Union) sollte „für eine Generation“ gelten, hieß es damals im Abstimmungskampf. Mit Hinweis darauf haben alle Tory-Premierminister dem Vorhaben eines zweiten Referendums eine Absage erteilt.

Der Idee, eine Abstimmung ohne die ausdrückliche Zustimmung des Unterhauses zu organisieren, erteilte im Herbst der Supreme Court unter Vorsitz seines schottischen Vorsitzenden eine Absage. Dann werde eben die 2024 anstehende Unterhauswahl zum Referendum umfunktioniert, teilte Sturgeon trotzig mit, erntete dafür aber heftige Kritik von Verfassungsfachleuten und Hohngelächter der Opposition.

Kandidatin Regan legt den Finger auf die Wunde, wenn sie sagt, man habe „keinen Fortschritt bei der Unabhängigkeit“ gemacht, „trotz der schlechtesten britischen Regierungen seit Menschengedenken“. Mit Bangen sehen die Nationalisten Sunak dabei zu, wie dessen ruhige Regierungsarbeit die Tory-Partei beruhigt. Vor allem aber fürchtet die SNP den von allen Meinungsforscher:innen prophezeiten Labour-Wahlsieg.

Oppositionsführer Keir Starmer hat Nicola Sturgeon zwar höflich „einen Giganten schottischer Politik“ genannt; die SNP aber sei dabei zu implodieren, „das sieht doch jeder“. Immer wieder ist der Labour-Chef zuletzt in den Norden gereist, schließlich hängt sein erhoffter Wahlsieg nicht zuletzt davon ab, dem derzeit einzigen von 59 schottischen Mandaten wenigstens ein Dutzend weitere hinzuzufügen.

Nach einem schwierigen Jahrzehnt scheint die alte Arbeiterpartei in Schottland wieder ein wenig Fuß zu fassen. Das ist nicht zuletzt Verdienst ihres regionalen Vorsitzenden Anas Sarwar. Dessen Vater war einst der erste Muslim im Unterhaus. Wenn nicht alles täuscht, wird sich Sarwar junior in Zukunft im Edinburgher Parlament mit seinem Glaubensbruder Yousaf messen – ein schönes Symbol gelungener Integration.

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