Sarajevo wird den Krieg nicht los

Der kosmopolitische Charme der bosnischen Hauptstadt verblasst hinter Armut und Perspektivlosigkeit. Modeschöpfer Istok Bratic setzt nationalistischer Verengung Kreativität entgegen. Ein Porträt von Markus Bickel.
Der Blick von Istok Bratics Balkon ist fantastisch. Strahlend weiß vom frisch gefallenen Schnee leuchten die Hänge, die die Stadt an der Miljacka von drei Seiten umgeben, schmale Minarette zieren die pittoreske Winterlandschaft auf der gegenüberliegenden Seite des Tals. Sieben Stockwerke tiefer huschen Männer in dunklen Mänteln den Gehweg an der Ausfahrtsstraße Richtung Flughafen entlang, Mütter mit ihren Kindern stehen dicht gedrängt an einer Bushaltestelle. Die tief stehende Abendsonne taucht die Dächer in ein warmes Licht.
Doch die Idylle trügt. Keine zweihundert Meter Luftlinie entfernt markiert eine Reihe Hochhäuser die einstige Frontlinie zwischen den bosnisch-serbischen Belagerern und den mehrheitlich muslimischen Verteidigern Sarajevos. Zwölf Jahre jung war der Modedesigner Istok Bratic, als er mit seinen Eltern im Januar 1992 aus Belgrad hierher zog – drei Monate vor Beginn des Krieges. „Unser Haus wurde immer wieder beschossen“, sagt er, „auch deshalb, weil sich in der Etage über unserer Wohnung Scharfschützen der bosnischen Armee verschanzt hatten“.
Die Einschusslöcher der Truppen Radovan Karadžics und Ratko Mladics klaffen noch immer an der Fassade
Dreißig Jahre später klaffen die Einschusslöcher der angreifenden Truppen Radovan Karadžics und Ratko Mladics noch immer an der Fassade – so wie an vielen Gebäuden entlang der sogenannten Sniper Alley, der von serbischen Scharfschützen drei Jahre lang unter Beschuss genommenen, endlos langen Straße Richtung Flughafen, dem Schlupfloch zur Welt. 1425 Tage dauerte die Belagerung Sarajevos, mehr als 11 000 Menschen wurden getötet, darunter 1600 Kinder. Unter anderem deswegen und wegen des Völkermords an Tausenden muslimischen Männern und Jugendlichen in Srebrenica im Juli 1995 sitzen die beiden prominentesten bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher nun lebenslang in einem Gefängnis der Vereinten Nationen im niederländischen Scheveningen ein.
Aber auch wenn die Waffen seit dem Friedensschluss auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Dayton in Ohio 1995 schweigen, wird Sarajevo den Krieg nicht los. Bosnien und Herzegowina zählt zu den ärmsten Staaten Europas, gemeinsam mit dem Kosovo, Albanien, der Ukraine und Moldawien. Wer kann, verlässt das Land Richtung EU. Auch Bratic studierte fünf Jahre in London, ehe er 2015 nach Sarajevo zurückkehrte; seine Kollektionen wurden in Zürich, Dubrovnik und New York gezeigt. Er liebe es, Menschen ein neues Gewand und damit zumindest für kurze Zeit ein andere Identität zu verpassen, sagt er.

Doch spätestens mit dem Beginn von Corona vor drei Jahren kam der Einbruch – verkauft hat er mit seiner Firma Istok Couture seitdem fast gar nichts mehr. Wie er sich trotzdem über Wasser halten konnte, weiß er selbst nicht genau: Ein bisschen in besseren Tagen Beiseitegelegtes und die Tatsache, dass er für die von den Eltern geerbte Wohnung keine Miete zahlen muss, hätten ihm geholfen, über die Runden zu kommen, erzählt er ernüchtert.
Zur Ernüchterung des 43-jährigen Sohns einer Balletttänzerin und eines Philosophieprofessors trägt auch das gesellschaftliche Klima in der einst als „Jerusalem des Balkans“ gepriesenen 300 000-Einwohnerstadt bei. Vor vier Jahrzehnten, im Februar 1984, begeisterten die Olympischen Winterspiele in Sarajevo mit ihrer Ausgelassenheit noch die Welt – im Rückblick wirkt es wie ein letztes Aufbäumen von Titos Cevapcici- und Slivovic-Sozialismus als Alternative zu autoritärem Sowjetkommunismus und westlichem Turbokapitalismus. Zwei Jahre später übernahm in Belgrad der Totengräber des Vielvölkerstaats Jugoslawien, Slobodan Miloševic, die Macht. Dass das fröhliche Olympia-Maskottchen, der kleine Wolf Vucko, heute in Sarajevo wieder Häuserwände ziert, hat weniger mit einer Renaissance liberalen, multiethnischen Denkens zu tun als mit Nostalgie.
Den Rang als Geheimtipp unter feierfreudigen jungen Leuten hat Belgrad Sarajevo längst abgelaufen
Das gilt auch für die Musik- und Partyszene der bosnischen Hauptstadt, die in den 2000er und 2010er Jahren noch als Geheimtipp unter feierfreudigen jungen Leuten aus Mittel- und Nordeuropa galt. Doch diesen Rang hat Serbiens Hauptstadt Belgrad Sarajevo längst abgelaufen. „Auch das Sarajevo Film Festival im Sommer lebt nur noch von dem legendären Ruf, den es sich während des Krieges erworben hat“, so Bratic auf dem Weg Richtung Innenstadt. Um das Geld für die Busfahrt zu sparen, geht er meistens zu Fuß. Wie vielen hier mangelt es ihm nicht an Zeit, die Arbeitslosigkeit in Bosnien und Herzegowina liegt bei mehr als vierzig Prozent.
Bratic aber schlägt nicht nur die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit auf den Magen, sondern fast noch mehr das Loblied auf das kosmopolitische Sarajevo, das Diplomaten und Kurzzeitbesucher immer wieder anschlagen. „Diese Stadt als multiethnisch zu bezeichnen, ist irreführend“, wird er laut. Nicht Toleranz und Weltoffenheit stünden an erster Stelle, sondern eine nationalistische Verengung, die gerade Kreative und Einzelgänger wie ihn an den Rand drängten. „Touristen können einfach neue Kleider überstreifen, wenn sie weiterziehen, ich kann das nicht.“ Das stempele ihn zum Außenseiter in der eigenen Stadt, so wie die meisten der wenigen Tausend Serbinnen und Serben, die nach Kriegsende in Sarajevo blieben. Die Gestaltung neuer Mode-Kollektionen, aber auch Ausstellungen junger Kunstschaffender sowie Konzerte des slowenischen Kammerchors, in dem er mitsingt, bieten ihm so die einzige Ausflucht aus der Tristesse des Alltags.

Zu Bratics Unbehagen bei trägt zudem der dysfunktionale Staatsaufbau, den die internationale Gemeinschaft dem Land am Ende des Krieges mit dem Dayton-Friedensvertrag verordnete. Seit Ende 1995 bildet die auf Vertreibung und Ermordung Zehntausender Muslime basierende bosnisch-serbische Republika Srpska gemeinsam mit der muslimisch-kroatischen Föderation den Gesamtstaat. Überwacht wird die politische Klasse des von Nationalisten in Zagreb und Belgrad immer wieder in seiner Existenz infrage gestellten Landes von einem sogenannten Hohen Repräsentanten.
Ausgestattet ist der seit anderthalb Jahren amtierende „High Rep“, der frühere deutsche Landwirtschaftsminister Christian Schmidt von der CSU, mit Vollmachten wie zu Zeiten, als Konsule und Wesire über die Geschicke des einst unter osmanischer, später dann unter Habsburg-Herrschaft stehende Bosnien und Herzegowina bestimmten: Dem Protektoratsherrn steht nicht nur das Recht zu, Politikerinnen und Politiker zu ent- und Gesetze per Dekret zu erlassen, sondern auch, Entscheidungen sowohl des gesamtstaatlichen Parlaments wie der beiden Teilrepubliken zu annullieren.
Doch weder hat Schmidt dem auf Anschluss an Serbien dringenden nationalistischen Präsidenten der Republika Srpska, Milorad Dodik, einen Riegel vorgeschoben noch Angehörigen der Minderheiten ein Gefühl der Zugehörigkeit gegeben. Zu diesen zählt auch Bratic, dessen Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg in Sarajevo als Tochter eines tschechischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren wurde – ehe sie nach vielen Jahren in Paris, Zagreb und Belgrad 1992 gemeinsam mit ihrem serbischen Mann und den beiden Kindern in ihre Heimatstadt zurückkehrte.

Fast allein steht Bratic auch in der großen serbisch-orthodoxen Kathedrale im Zentrum der Stadt, nur ein paar Ecken entfernt von der 1530 errichteten Gazi-Husrev-Beg-Moschee, der katholischen Kathedrale und dem Museum der Juden Bosnien und Herzegowinas. Die golden glänzenden Ikonen sowie die Stille zögen ihn hierhin, sagt er – und an anderen Tagen die orthodoxen Gesänge, die er seit seiner Kindheit kenne und liebe. Vor dem Gotteshaus spielt eine Handvoll Männer mit großen Figuren Schach, und Bratic erzählt, wie er am Tag des Brandes von Notre Dame in Paris im April 2019 kurzerhand die Choreografie einer für den Abend angesetzten Modenschau ändern und sie von Kirchenmusik begleiten lassen wollte. Die Veranstalter jedoch hätten das abgelehnt mit der Begründung, das dem muslimischen Publikum nicht zumuten zu können.
Angesichts der Abspaltungstendenzen der vom bosnisch-serbischen Genozidleugner Dodik geführten Republika Srpska überrascht Bratic der Nationalismus der alten bosnisch-muslimischen Eliten des Landes nicht. Was ihn besorgt, ist die Engstirnigkeit immer mehr junger Leute, auch unter seinen Models.
So habe sich neulich kurz vor Beginn des Defilees ein Model geweigert, einen mit Kreuzen verzierten Schal zu tragen, weil das gegen ihren Glauben verstoße. Zum Glück sei eine andere für sie eingesprungen, sagt Bratic, doch seine Hoffnung, durch schöpferisches Schaffen und künstlerische Kreativität den konservativen Kreisen ein Schnippchen zu schlagen, sei dadurch nicht gerade gewachsen.