Russland unter Wladimir Putin: Fragen zum Zweiten Weltkrieg unerwünscht

Russland versucht die sowjetische Sicht auf den Zweiten Weltkrieg gesetzlich zu verfestigen. Viele Historikerinnen und Historiker sind irritiert.
Moskau - Eine Ausstellung im Museum heißt „Triumph der Sieger“. Mehrere Säle sind den Siegesparaden auf dem Roten Platz gewidmet: der Parade vom August 1945 unter Josef Stalin und auch der vom Mai 2015, als Russlands neue Armata-Kampfpanzer vor Wladimir Putin vorbeirollen. Und sogar im fernen 2937 marschieren rote Kriegermassen durch eine erzmonumentale Architektur. Die Botschaft lautet wohl: „Wir haben gesiegt, wir siegen und wir werden immer siegen.“
Am Sonntag fahren wieder Panzer über den Roten Platz, Russland feiert den 76. „Tag des Sieges“ über Hitlerdeutschland. Im Moskauer „Zentralen Museum des Großen Vaterländischen Krieges“, auch kurz „Museum des Sieges“, herrscht lebhafter Verkehr. Familien und Jugendgruppen ziehen durch die Hallen, die den Schlachten um Moskau, Stalingrad oder Berlin gewidmet sind.
Russland: Wladimir Putin verteidigte 2019 den Hitler-Stalin-Pakt von 1939
Auf einem lebensgroßen Schwarzweiß-Bildschirm rezitiert eine junge Schauspielerin in Lumpen den Brief eines Mädchens aus dem belagerten Leningrad an ihren Vater, darüber, wie die Mutter verhungert ist. Etwas weiter schildert ein stolz-grimmiger Panzerfahrer, wie er bei Kursk drei deutsche Tiger-Panzer abgeschossen hat. „Danach haben wir aufgehört zu zählen.“ Und ein Vater erzählt, er sei wegen seines kleinen Sohnes hier: Der solle sehen, wie es gewesen sei. „Wir haben für die rechte Sache gekämpft und gesiegt. Der 9. Mai ist ein heiliger Tag.“
Der opferreiche Sieg im Zweiten Weltkrieg bleibt das zentrale Ereignis der russischen Vergangenheit. Bei der Verfassungsreform vergangenen April ließ Wladimir Putin den „Schutz der historischen Wahrheit“ über „das Heldentum des Volkes“ ins Grundgesetz schreiben. Vorher, bei einem GUS-Gipfel Ende 2019, hatte der Staatschef eine stundenlange Vorlesung gehalten, um den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 zu verteidigen, der im Westen als Mitauslöser für den Zweiten Weltkrieg betrachtet wird. Diesen Februar stellte die Staatsduma „die bewusste Verbreitung unwahrer Mitteilungen über die Tätigkeit der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg“ unter Strafrecht. Und am Mittwoch brachten mehrere Parlamentarier einen neuen Gesetzentwurf ein. Er verbietet, in der Öffentlichkeit die Ziele, Entscheidungen und Handlungen der Führung der UdSSR mit denen der Hitler-Regierung gleichzusetzen.
Neue Filme aus Russland setzen die Tradition des Sowjetkinos fort
Er verbietet auch die „Verneinung der Rolle des Sowjetvolkes bei der Zerschlagung Nazideutschlands und die humanitäre Mission der UdSSR bei der Befreiung der Länder Europas“.
Viele russische Historikerinnen und Historiker sind irritiert. „Man kann die historische Wahrheit nicht per Gesetz verordnen“, sagt der Stalinismus-Experte Nikita Petrow der Frankfurter Rundschau. „Wenn Historiker für bestimmte wissenschaftliche Schlussfolgerungen staatliche Bußen drohen, bedeutet das das Ende jeder geschichtswissenschaftlicher Diskussion.“ Und es sei zu erwarten, dass das Gesetz so unklar formuliert werde, dass niemand genau wisse, welche Aussagen strafbar sein könnten. Der Kriegshistoriker Wladimir Kiknadse spricht sich gegenüber der BBC dafür aus, strittige Fragen über den „Großen Vaterländischen Krieg“ innerhalb der Zunft zu klären: „Wissenschaftliche Diskussionen – bitte sehr, aber nicht vor einem unvorbereiteten Publikum, das bereit ist, alles zu schlucken.“
Angesichts von 27 Millionen sowjetischen Kriegstoten herrscht nationaler Konsens, dass die UdSSR den entscheidenden Anteil am Sieg über die Nazis hatte. Aber in der russischen Öffentlichkeit sind hässliche Momente des Sieges, etwa Kriegsverbrechen von Rotarmisten in Osteuropa, Tabu. Neue russische Filme setzen zudem mit Wucht die Tradition des Sowjetkinos fort, die eigenen Kriegsteilnehmer zu heroisieren.
Stalinismus-Experte Nikita Petrow: „Russland verkündet quasireligiöse Doktrinen“
Dahinter sieht Petrow eine mittelalterliche Herangehensweise, die ihn an die Inquisition erinnert. „Russland scheut sich, die eigene Geschichte wissenschaftlich zu erforschen, es verkündet stattdessen quasireligiöse Doktrinen, an die alle zu glauben haben.“
Auch das „Museum des Sieges“, dass zentrale Gebäude im Moskauer „Park des Sieges“, umstellt von Gotteshäusern und Denkmälern, hat etwas Sakrales. Drinnen zeigt das riesige Hintergrundgemälde des Dioramas der Schlacht von Moskau sowjetische Infanteristen, die deutsche Panzer bekämpfen. Viele tragen blutige Verletzungen wie Wundmale.
Vor dem „Saal des Ruhmes“, an dessen Marmorwänden die Namen von über 11 800 „Helden der Sowjetunion“ in Goldbuchstaben geschrieben sind, steht ein Ehepaar und redet vom Stolz auf ihr Land und dem Heldentum des Volkes. Was sie von den Deutschen halten? „Ihrer Generation kann keiner mehr Vorwürfe machen“, sagt der Mann. „Das sind andere Menschen gewesen“, fügt die Frau hinzu. Die meisten Russen sind versöhnlicher gesonnen als die staatliche Erinnerungskultur. (Stefan Scholl)