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500 Verweigerer, 300.000 Einberufene: Wie können sich Russen Putins Krieg entziehen?

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Von: Pitt von Bebenburg

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Maria A. arbeitet in der Bewegung für Kriegsdienstverweigerung Russland.
Maria A. arbeitet in der Bewegung für Kriegsdienstverweigerung Russland. © Renate Hoyer

Russlands Ukraine-Krieg stellt Menschen vor die Herausforderung, sich zum Vorgehen ihres Landes zu verhalten und Gewissen und Angst überein zu bringen.

Die 20-jährige Maria A. ist in Moskau geboren und studiert in Schottland. Als Vertreterin der 2014 gegründeten russischen Organisation „Movement of Conscientious Objection“ unterstützt sie Kriegsdienstverweigerer in Russland. Sie arbeitet zudem zusammen mit anderen europäischen Organisationen im Rahmen der „ObjectWarCampaign“, die Deserteure und Kriegsverweigerer unterstützt. Ihren vollständigen Namen möchte sie aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlichen.

Frau A., wie groß ist der Teil der russischen Bevölkerung, der diesen Krieg ablehnt?

Es ist nicht leicht, die wahre Einstellung der russischen Bevölkerung herauszufinden. Umfragedaten werden manipuliert. Und natürlich haben Leute Angst, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen. Allein 2022 gab es 20.000 Verhaftungen bei regimekritischen Demonstrationen.

Wie können sich russische Männer dem Krieg gegen die Ukraine entziehen?

Es ist ein grundlegendes Menschenrecht zu sagen: „Ich will niemanden umbringen.“ Wir werden das immer wieder einklagen. Aber in der Praxis ist das sehr kompliziert. Es gibt die Option, den Kriegsdienst zu verweigern und einen Zivildienst zu machen. Aber etwa die Hälfte der Anträge wird abgelehnt, oft unter Vorwänden, dass die Menschen ihren Antrag nicht richtig ausgefüllt hätten oder dass ihre medizinischen Atteste nicht ausreichten.

Russland: Kriegsdienst verweigern? Möglich, aber schwierig - „Entspricht dem Bild eines echten Mannes“

Heißt das, dass die andere Hälfte der Verweigerer anerkannt wird und Zivildienst leistet?

Ja. Sie müssen aber bedenken, dass es so schwierig wie möglich gemacht wird. Der Militärdienst dauert ein Jahr, der Zivildienst länger als zwei Jahre. Die Betroffenen werden sehr schlecht bezahlt und bekommen keine Unterkunft. Deswegen gehen die meisten zum Militärdienst. Das ist auch gesellschaftlich eher akzeptiert und entspricht dem verbreiteten Bild, was es in Russland bedeutet, ein „echter Mann“ zu sein.

Wie viele anerkannte Kriegsdienstverweigerer gibt es in Russland?

Wir schätzen die Zahl auf 500 jährlich. Auf der anderen Seite werden pro Jahr fast 300.000 einberufen.

Mit welchen Mitteln werden die Menschen seit dem Krieg gegen die Ukraine unter Druck gesetzt, zur Armee zu gehen?

Die Polizei macht Razzien, etwa in Hostels, oder fängt Leute an U-Bahn-Stationen oder mitten auf der Straße ab, um ihnen ihre Einberufung auszuhändigen. Viele Männer werden gezwungen, ihre Einberufung zu unterschreiben. Da wird an Türen geklingelt und die Leute gedrängt, sofort zuzustimmen. Seit April ist auch der elektronische Versand über eine offizielle Website möglich, bei der fast alle Russen angemeldet sind. Sobald die Einberufung dort eingestellt wird, gilt sie als zugestellt – selbst wenn die Person sie noch gar nicht gesehen hat. Dann dürfen sie Russland nicht mehr verlassen. Nach weiteren 20 Tagen sind weitere Sanktionen möglich: Die Menschen können ihren Führerschein verlieren oder sie erhalten keine Kredite mehr bei ihrer Bank. Das sind nur einige Beispiele dafür, wie die Menschen unter Druck gesetzt werden, zur Armee zu gehen. Sobald sie dort sind, können sie jederzeit ins Kriegsgebiet geschickt werden.

Wie unterstützt Ihre Organisation Betroffene?

Wir geben rechtliche Unterstützung und wir helfen psychologisch. Wir sammeln Informationen über Fehlverhalten der staatlichen Organe, etwa der Einberufungsbehörden. Es gibt Hunderte Menschen, die den Kriegsdienst verweigern, nachdem sie bereits eingezogen und in den Krieg geschickt wurden. Es gibt mindestens 13 Camps, in denen das Militär Kriegsdienstverweigerer festhält. Wir versuchen, etwa mit Protestnoten zu intervenieren. In zwei dieser Lager, in denen jeweils mehr als 300 Soldaten interniert worden sind, hatten wir Erfolg – sie sind mittlerweile geschlossen worden. Aber es gibt noch viel mehr dieser Lager, und vermutlich wissen wir nicht von allen. Darüber hinaus wurden bereits 360 Menschen wegen Desertion verurteilt.

Druck in Russland: „Wird immer schwieriger, in die EU zu gelangen“

Was kann Deutschland, was kann die EU tun, um russische Kriegsdienstgegner zu unterstützen?

Deutschland hat in der EU am meisten getan. Kein Land hat so viele humanitäre Visa an Aktivistinnen und Aktivisten vergeben. Dafür bin ich sehr dankbar. Gleichzeitig erleben wir, dass die Verlängerung dieser Visa sehr viel komplizierter ist und länger dauert als zu Beginn. Es wird auch immer schwieriger, in die Europäische Union zu gelangen, um politisches Asyl zu beantragen. Die Vergabe von Visa ist zum Erliegen gekommen, auch wenn es nur um Kurzzeit-Visa geht. Wir würden uns wünschen, dass mehr Arbeitsvisa an oppositionelle Russinnen und Russen vergeben werden. Viele wollen gerne arbeiten. Das könnte ein Gewinn sein für die Europäische Union und für die Kriegsdienstverweigerer.

Welche Hoffnung haben Sie auf Frieden?

Es ist schwierig, die Hoffnung aufrechtzuerhalten. Aber je mehr Menschen in Russland aufstehen, um Widerstand zu leisten, desto größer wird die Chance.

Interview: Pitt von Bebenburg

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