Die trügerische Ruhe in Russlands Provinz

Auch in der Kaukasusrepublik Dagestan gewöhnt man sich an die Kämpfe in der Ukraine – doch begeistert sind die „loyalen Krieger“ nicht. Eine Reportage.
Frankfurt – Touristen aus Petersburg möge er nicht, sagt Timur. „Mein Sohn lag im Herbst verwundet in einem Krankenhaus in Sankt Petersburg, ich bin hingefahren, 2700 Kilometer mit dem Auto. Ich wollte eine Privatwohnung in der Nähe des Krankenhauses nehmen, aber alle Vermieter, die ich anrief, haben abgelehnt.“ Timur (Name von der Redaktion geändert), Taxifahrer aus Derbent, spricht wie die meisten in Dagestan fehlerfrei Russisch, aber mit kehligem kaukasischen Akzent. „Die Petersburger halten wohl alle Dagestaner für Berufsverbrecher oder Drogenhändler.“
Sein Sohn habe mit vier anderen verletzten Dagestanern in einem Zimmer gelegen. Und mit einem Petersburger, dessen Gattin verschaffte ihm doch eine Privatunterkunft in der Nachbarschaft. „Ihr Mann hat mit meinem Sohn in einer Spezialeinheit gedient.“ Wir sitzen in Timurs koreanischem Kleinwagen und fahren die Fernstraße R217 hinauf, nach Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans. Über weite Strecken vierspuriger, glatter Asphalt, wir überholen Lastzüge mit aserbaidschanischen Nummernschildern und polnisch, englisch oder deutsch beschrifteten Containern. Die Autobahn aus Aserbaidschan im Süden gilt als Ader der neuen Grauimporte aus der EU.
Glaubt man der offiziellen Statistik oder Timur, so boomt Dagestan, trotz oder gerade wegen des Sanktionsstreits mit dem Westen. „Bei uns ist jetzt jeder Unternehmer!“ Mehr Lastwagen auf der Autobahn, mehr Treibhäuser auf der grünenden Ebene daneben, mehr Inlandstourismus. Aber der Buchstabe „Z“, das halboffizielle Feldzeichen der russischen Truppen in der Ukraine, zeigt sich auf den 120 Kilometern von Derbent nach Machatschkala auf nur einer Pkw-Heckscheibe. Die Kämpfe in der Ukraine sind am felsigen Südostrand Russlands etwas, woran man sich gewöhnt hat, für das man sich aber nicht begeistert.
Links, im Osten, schimmert das kaspische Meer, am anderen Ufer beginnt Mittelasien, rechts, im Westen, schwebt grau die Schattenlinie der Berge. Dahinter kurven die ersten Touristinnen und Touristen der Saison in Kleinbussen hinauf zum Tschirkejsker Stausee. Oben warten junge Motorboot-Freaks, sie werden ihre Gäste mit wilden Zickzack-Sprints über die eigenen Bugwellen schwindlig schaukeln, für umgerechnet keine fünf Euro pro Bauch.
2022 besuchten nach offiziellen Angaben 1,5 Millionen Menschen Dagestan, fast nur aus Russland, 44 Prozent mehr als 2021. Der Umsatz der Branche stieg um 15 Prozent auf 7,951 Milliarden Rubel, umgerechnet gut 90 Millionen Euro. Aber noch sind die Destinationen in Berg-Dagestan spärlich, laut dem Portal „ski2.ru“ bietet der einzige Wintersportort Tschindirtschero 57 Fremdenbetten.
Doch Dagestan bleibt arm. Offiziell gibt es 11,6 Prozent Arbeitslosigkeit, der dritte Platz unter 85 russischen Regionen. Der Durchschnittsverdienst beträgt 32 120 Rubel (360 Euro) monatlich, viertletzter Platz. Die Menschen hier betrachten sich als Krieger, arm aber kühn. Viele Männer sind Athleten, ihre Ohren erinnern an Tschudu, gefüllte dagestanische Brotfladen, über die Jahre platt gedroschen in Ring- oder Boxkämpfen.
In Machatschkala wird gescherzt, Russen gäben Schmiergeld, um nicht dienen zu müssen, die Dagestaner aber zahlten, um zur Armee zu dürfen. Ein Vertrag als Berufssoldat gilt als hoch dotiertes Glück, der Dienst in der Ukraine mit an die 2000 Euro Monatssold als Spitzenjob. Dabei ist die Ukraine, wo russische Ostslawen den ostslawischen Nachbarn ihr Land streitig machen, für die Dagestaner ein fremdes Schlachtfeld.
Die BBC fixierte bisher namentlich 20 451 Gefallene aus ganz Russland, 497 davon Dagestaner. Nach regionalen Amtsangaben fielen 420 Dagestaner, die föderalen Behörden bestätigten derweil russlandweit nur 6000 Tote – und das im vergangenen September. Das lässt in Dagestan vor allem mehr Ehrlichkeit gegenüber den eigenen Totenzahlen vermuten. In Moskau zeigen Werbetafeln Soldatenporträts mit der Unterschrift „Held Russlands“, in Machatschkala steht „Gefallen in Erfüllung der Pflicht“ darunter.
Aber als Russland im September die Teilmobilmachung ausrief, gingen in Dagestan Hunderte auf die Straße, es gab Gerüchte von 17 000 Gestellungsbefehlen für die 3,2-Millionen-Seelen-Republik, in Machatschkala eskalierte eine Kundgebung in einer Massenschlägerei.
Inzwischen herrscht wieder Ruhe. Auch Dagestan sei nach 14 Monaten „Spezialoperation“ in der Ukraine müde, sagt Magomed Magomedow, stellvertretender Chefredakteur der Zeitung „Tschernowik“. „Ein Drittel der Republik ist dafür, vor allem die Verwandten der kämpfenden Soldaten, ein Drittel ist dagegen, ein Drittel ist unschlüssig oder gleichgültig.“ Wie ganz Russland hat sich auch der Ostkaukasus darin eingerichtet, was der Politologe Andrei Kolesnikow als „Halbkriegszustand“ beschreibt.
In Dagestan aber gibt es mit „Tschernowik“ und „Nowoje Delo“ noch zwei unabhängige Zeitungen, auch wenn die Obrigkeit inzwischen alle Druckereien und einen Großteil der Anzeigenkunden des „Tschernowiks“ mit Drohungen vergrault hat. Aber wenn in Dagestans Bergen ein Hirte als mutmaßlicher Islamist erschossen oder auf einem Polizeirevier ein junger Kampfsportler zu Tode geprügelt wird, fordern nicht nur seine Eltern, sondern ganze Familienverbunde Aufklärung und gerechte Vergeltung, Klans, die oft mächtige Mitglieder in Gerichten oder im Parlament haben. Diese Klans ersetzen in gewisser Weise die Zivilgesellschaft. In der Fremde gefallene Helden aber gelten im Kaukasus als Schicksal, für sie geht der Klan auf den Friedhof, nicht auf die Straße.
Timur, der Taxifahrer, ehemaliger Einsatzpolizist und Veteran des Tschetschenien-Krieges, erzählt, er habe auch einen Gestellungsbefehl bekommen. „Ich bin hingegangen, ich bin bereit zu kämpfen.“ Im Kriegskommissariat sagte man ihm, jetzt gäbe es genug Soldaten, bei Bedarf würde man sich melden. „Das in der Ukraine wird nie enden, die Ukrainer sind ein nachtragendes Volk“, sagt Timur. „Die wollen ihr Land nicht hergeben. Und was sie doch hergegeben haben, wollen sie sich wieder zurückholen.“ Timurs Worte klingen durchaus respektvoll.