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Zwei Ärzte auf 100 Corona-Patienten - Russische Ärztin im Interview: „Aufhören wäre wie sterben“

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Von: Stefan Scholl

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Mediziner sprechen mit einem an Covid-19 erkrankten Patienten in einer Moskauer Klinik.
Mediziner sprechen mit einem an Covid-19 erkrankten Patienten in einer Moskauer Klinik. © Dimitar DILKOFF/AFP

Anastasia Wassiljewa, Chefin der russischen Gewerkschaft „Allianz der Ärzte“, über das Coronavirus, das marode russische Gesundheitssystem und Putin und Nawalny.

Frau Wassiljewa, Russlands Mediziner haben auf einer Gedächtnis-Website inzwischen fast 780 Kollegen aufgelistet, die beim Kampf gegen Covid-19 gestorben sind. Wie kann es zu so einer Zahl kommen?

Zum einen mangelt es an individuellen Schutzmitteln. Anfangs musste sich das Personal selbst Masken aus Bettbezügen nähen. Zum anderen sind die Mediziner völlig überlastet. Ein Kollege aus Uljanowsk erzählte uns, in einem Krankenhaus spritze ein Krankenpfleger am Tag 300 Injektionen und schließe 300 Tropfgeräte an. Ein Arzt und ein Pfleger auf 400 Patienten. In einem anderen Corona-Hospital dort sind es zwei Ärzte auf 100 Leute.

Das Coronavirus bricht auch in Russland Rekorde, inzwischen gibt es rund 16 000 Neuinfizierte und mehr als 200 Tote täglich.

Das sind die offiziellen Statistiken, ich habe keine genauen Zahlen, aber real ist die Todesrate viel höher.

Corona in Russland: viele Notrufe können nicht angefahren werden

Warum?

An einem Tag gab es in einem Krankenhaus in Uljanowsk 15 Tote. In ganz Moskau, mit 20 mal mehr Einwohnern starben am selben Tag offiziell 35 Corona-Patienten. Und wie oft erzählen uns Ambulanzfahrer, dass sie es nicht schaffen, alle Notrufe anzufahren, wie viele Leute sterben ohne medizinische Versorgung zu Hause?

Ihre Gewerkschaft liefert auch Hilfsgeräte an Provinzkrankenhäuser, offenbar zum Ärger der Behörden.

Im Okulowka im Gebiet Nowgorod wurde gerade erst der Chirurg Juri Korowin zu einer Strafe von 50 000 Rubel (550 Euro) verurteilt, weil er angeblich unter Verstoß gegen die Hygienevorschriften medizinisches Material von uns entgegengenommen hat. Masken und Schutzkleidung für das Rajonkrankenhaus, aber auch Blutdruckmesser und einen Mikrowellenherd. Ein Chirurg nimmt Hilfe an, die sein Krankenhaus braucht, und wird dafür bestraft.

Auch, weil sie von der unabhängigen „Union der Ärzte“ kam?

Zur Person

Anastasia Wassiljewa , 36, wuchs in einer Moskauer Ärztefamilie auf, arbeitete nach Abschluss ihres Medizinstudiums als Dozentin und Augenärztin, der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny gehört seit 2017 zu ihren Patienten. Mit seiner juristischen Hilfe verhinderte sie die Entlassung ihrer Mutter aus dem Forschungsinstitut für Augenkrankheiten, wo auch sie gearbeitet hatte. Nach dieser Erfahrung gründete sie 2018 die unabhängige Medizinergewerkschaft „Allianz der Ärzte“.

Auch deshalb. Aber wir machen solche Geschichten öffentlich. Jetzt will das ganze Land Geld für Korowin sammeln. Der Arzt wurde zum Helden, die Umfragewerte des Gouverneurs sind prompt gefallen. Solch kannibalische Geschichten gibt es in ganz Russland. Jetzt versuchen sie, in der Region Kemerowo eine Tuberkuloseabteilung zu schließen. Sie sagen, wir haben keine Ärzte, Patienten mit offener Tuberkulose sollen sich zu Hause kurieren.

Die Ärzte kämpfen nicht nur gegen Covid-19, sondern auch gegen medizinische Strukturprobleme?

Über die Hälfte der Krankenhäuser wurden geschlossen, von 15 000 sind 7000 übrig geblieben. Und natürlich wurde Personal entlassen. Wir haben 2,7 Onkologen auf 50 000 Menschen. Und in ganz Russland gibt es 200 Kinderonkologen. Was das Gesundheitswesen angeht, scheint unsere politische Führung nach dem Motto zu leben: „Nach uns die Sintflut!“.

Ärzt:innen in Russland sprechen in Zeiten von Corona von „Chaos“

Ist Mangel das Hauptproblem der russischen Medizin?

Das größte Problem ist die Verteilung der Mittel. Wenn Geld ausgegeben wird, dann auf sonderbare Weise. Es wird gestohlen, es herrscht Chaos. Es gibt zum Beispiel das Programm „Landarzt“, um junge Mediziner in die Dörfer zu holen. Aber oft hat man weder eine Wohnung für sie, noch zahlt man ihnen die fällige Prämie von einer Million Rubel. Und ihr Gehalt liegt bei 30 000 Rubel (330 Euro).

Sie wurden schon festgenommen, mit Bußgeld belegt, Putins Erzfeind Alexej Nawalny ist ihr langjähriger Patient. Haben Sie keine Angst?

Ich habe vor nichts Angst. Ich glaube, das, was ich tue, hilft den Leuten in meinem Land. Damit aufzuhören wäre für mich wie Sterben.

Manche nennen Ihre Allianz „Nawalny-Gewerkschaft“.

Unsere Gewerkschaft ist die Vereinigung einer Berufsgruppe. Wenn Nawalny uns hilft, vielen Dank, wenn Putin hilft, auch vielen Dank. Aber ich bin gegen Putin, weil ich sehe, wie er in 20 Jahren das Gesundheitssystem ruiniert hat. Ich möchte dieses System wieder aufrichten, ich will, dass jemand das Land regiert, der das auch möchte. Ich bin für Nawalny. (Stefan Scholl)

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