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„Doppelte Standards“ als Notwendigkeit – Müssen Demokratien Kompromisse aushalten?

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Von: Anna-Katharina Ahnefeld

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Der chinesische Präsident Xi Jinping und der brasilianische Präsident Luiz Inacio Lula da Silva nehmen an einer Begrüßungszeremonie in der Großen Halle des Volkes in Peking am 14. April 2023 teil.
Der chinesische Präsident Xi Jinping und der brasilianische Präsident Luiz Inacio Lula da Silva nehmen an einer Begrüßungszeremonie in der Großen Halle des Volkes in Peking am 14. April 2023 teil. © KEN ISHII/AFP

Morgens Biden, mittags Xi, abends Lawrow: So die Agenda von Brasiliens Präsident Lula. In einem möglichen neuen Kalten Krieg positionieren sich zahlreiche Staaten nicht – Deutschland muss damit umgehen.

Berlin – Als Luiz Inácio Lula da Silva zum zweiten Mal in seinem Leben Brasiliens Regierungschef wurde, trafen nur 40 Minuten später Glückwünsche von US-Präsident Joe Biden ein. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) freute sich öffentlich über die künftige Zusammenarbeit und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) benannte das demokratische System des Landes als Gewinner der Brasilien-Wahl. Nach vier Jahren unter dem rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro kehrte die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas zurück an die Seite des sogenannten Westens. Wenige Wochen später warf Lula, ein Linken-Politiker und misstrauisch gegenüber den USA, jenen Ländern vor, „den Ukraine-Krieg zu schüren“.

Bei Lulas kürzlicher Reise nach China wurde klar, dass er die Beziehungen zu Peking zu intensivieren gedenkt. Und sogar Russlands Außenminister Sergej Lawrow war ihm jüngst willkommen. Trotz dieser geopolitischen Differenzen aber vertieft Deutschland seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Brasilien, das unter Lula den Regenwald im Amazonas wieder schützen will und großes Potenzial für die Herstellung von grünem Wasserstoff hat.

Das Land Brasilien und dessen Politik der Blockfreiheit dient hier als ein Beispiel, das illustriert, dass die Welt aus Grauzonen besteht. Es zeigt, dass Länder einerseits gemeinsame Interessen haben können – und an anderer Stelle diametral voneinander entfernt stehen.

Weltordnung: Demokratie gegen Autokratie – „Diese Sichtweise ist zu einfach“

Für Deutschland und den Westen bedeutet das einen Spagat zwischen der sogenannten Wertepolitik und einer Realpolitik. Denn würde die Bundesrepublik nur mit Ländern Beziehungen unterhalten, die als stabile Demokratien gelten, wäre die Liste kurz. Stattdessen bestehen bilaterale Beziehungen zu 195 Staaten. Neben den 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zählen dazu der Heilige Stuhl und Kosovo. „Die großen globalen Herausforderungen unserer Zeit – Klimakrise, Bewahrung des Weltfriedens, sozioökonomische Ungleichheit und andauernde Ernährungsunsicherheit – kann die Gemeinschaft der Völker nur gemeinsam effektiv begegnen“, schreibt das Auswärtige Amt auf seiner Homepage.

So verlangt Außenpolitik oftmals, Überschneidungen zu anderen Ländern zu finden – beispielsweise im Klimaschutz – und gleichzeitig zu ertragen, dass die wirtschaftlichen und politischen Partner in anderen Themenfeldern – wie der Verurteilung von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine –eine andere Position einnehmen. „Globale Mächte, zu denen Deutschland zweifellos gehört, sind zuweilen gezwungen, doppelte Standards anzulegen“, sagt Michael Werz, Nordamerika-Berater der Münchener Sicherheitskonferenz und Senior Fellow am Center for American Progress in Washington der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA.

Doch wie viele Kompromisse sind in der heutigen Weltordnung notwendig? „Gute Außenpolitik versucht die Zahl dieser Kompromisse zu minimieren und in einer öffentlichen Diskussion gut zu begründen“, so Werz. Es mache in einer Welt „globaler Unordnung“ keinen Sinn, normative Glaubenssätze zu verkünden, die nicht eingelöst werden können. Wichtiger sei es, an dem übergeordneten Ziel der Stärkung von Demokratie und Menschenrechten festzuhalten. Werz ergänzt: „Was erfolgversprechend und praktikabel ist, sollte man tun – und zwar möglichst in Koalitionen mit anderen.“ So sei es etwa richtig, Polen und Ungarn durch die Kürzung von EU-Mitteln dazu zu zwingen, sich an die Rechtsstaatlichkeit zu halten. Nicht aber, zu glauben, „dass Deutschland die chinesische Aggression gegenüber Taiwan abwenden kann.“

Kompromiss als Bestandteil von Demokratie: Klimakrise macht internationale Partnerschaften notwendig

Auch für Michelle Deutsch vom Berliner Thinktank Progressives Zentrum bildet die Betrachtung von Blöcken die Komplexität nicht ab. Als Beispiel dafür nennt sie die Klimakrise. „Der Klimaschutz hat eine existenzielle Dringlichkeit. Ein starkes Engagement aller Akteure in dieser Sache und das Knüpfen von internationalen Partnerschaften ist daher unabdingbar“, meint die Politikwissenschaftlerin. So sei gerade der politische Kompromiss ein elementarer Bestandteil von Demokratien.

Führt man diesen Gedankengang weiter, wird ersichtlich, dass die Bekämpfung der Klimakrise einen solchen Pragmatismus im Umgang mit Allianzen aufzwingt. „Es geht um den stetigen Streit, das demokratische Aushandeln von Postionen, das Verhandeln von demokratisch gewählten Institutionen“, sagt Deutsch. Eine Zusammenarbeit sei auch über Unterschiede hinweg denkbar – solange nicht Grundnormen des Völkerrechts von den betreffenden Akteuren selbst eklatant verletzt würden.

Zurück also zu Brasilien, das in Russlands Invasionskrieg eine neutrale Stellung bezieht, vom Westen dafür kritisiert wird und gleichzeitig wichtiger Partner Deutschlands ist. Eine aktuelle Analyse des US-Magazins Foreign Policy bezeichnet das Vorgehen Brasilias als „aktive Blockfreiheit“. So können Länder in Fragen wie den Menschenrechten Positionen des sogenannten Westens einnehmen – und in anderen, Beispiel Wirtschaft, Positionen autoritärer Staaten wie China. Denn zahlreiche Staaten wollen sich in einem drohenden neuen Kalten Krieg nicht zwischen dem Westen und China und Russland entscheiden. Es geht in der heutigen Realpolitik nicht um Demokratie gegen Autokratie, sondern Grauzonen.

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