+++ 20.56 Uhr: Der Europäische Rat spricht sich im Fall des vergifteten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny für eine gemeinsame internationale Antwort aus und schließt aus restriktive Maßnahmen gegen Russland nicht aus. Das gab der Rat am Donnerstagabend (03.09.2020) in einer Pressemitteilung bekannt. „Die Anwendung chemischer Waffen ist unter jeglichen Umständen absolut inakzeptabel, bedeutet einen ernsthaften Bruch mit internationalem Recht und internationalen Menschenrechtsstandards“, heißt es in der Mitteilung.
Der Europäische Rat forderte Russland außerdem auf, sein Möglichstes zu tun, um das Verbrechen an Nawalny aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen; Straffreiheit werde nicht akzeptiert. Russland solle mit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) kooperieren, um unabhängige Ermittlungen zu gewährleisten.
+++ 13.19 Uhr: Ein Baustopp der Gaspipeline Nord Stream 2 als Sanktion gegen Russland im Fall Nawalny scheint unwahrscheinlich. Diverse Vertreter aus Politik und Wirtschaft sprachen sich gegen eine solche Maßnahme aus, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will an dem Projekt festhalten.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte am Donnerstag (03.09.2020) in Berlin: „Das eine hat mit dem anderen aus unserer Sicht zunächst mal nichts zu tun.“ Der Bau von Nord Stream 2 sei keine staatliche, sondern eine privatwirtschaftliche Entscheidung. Es werde aber schwieriger, das Projekt „in einem positiven Licht“ zu begleiten, räumte Söder ein. Merkel hatte kürzlich den Willen der Bundesregierung zur Fortsetzung und Vollendung des Baus der umstrittenen Pipeline von Russland durch die Ostsee nach Deutschland bekräftigt.
Auch der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft spricht sich mit Blick auf den Fall Nawalny gegen einen Abbruch des Erdgas-Projekts Nord Stream 2 aus. „Auf die Vergiftung Nawalnys mit weiteren Wirtschaftssanktionen zu reagieren, die dann wieder an der Sache völlig unbeteiligte Unternehmen und die russische Bevölkerung treffen würden, halten wir für falsch“, sagte der Vorsitzende des Ost-Ausschusses, Oliver Hermes, am Donnerstag (03.09.2020). Man dürfe nicht zulassen, dass sich der Vorfall zu einer dauerhaften Belastung der bilateralen Beziehungen entwickle und damit auch die deutsch-russischen Wirtschaftskontakte weiter beeinträchtige, so Hermes.
Unterdessen weist der Kreml die Anschuldigung, für den Giftanschlag auf Nawalny verantwortlich zu sein, zurück. „Es gibt keinen Grund, dem russischen Staat etwas vorzuwerfen“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Donnerstag (03.09.2020) der Agentur Tass zufolge. Deshalb sehe er auch keinen Anlass für irgendwelche Sanktionen, die gegen Russland oder gegen die Ostsee-Pipline Nord Stream 2 verhängt werden könnten.
Update vom Donnerstag, 03.09.2020, 6.45 Uhr: Nach der Bestätigung des Giftanschlags auf den Kreml-Kritiker Alexej Nawalny wird die Nato über mögliche Konsequenzen beraten. Die Nato werde „mit Deutschland und allen Bündnispartnern die Auswirkungen dieser Erkenntnisse“ erörtern, erklärte der Generalsekretär der Allianz, Jens Stoltenberg, der den Einsatz von Nervengift gegen Nawalny als „schockierend“ bezeichnete. Die Nato betrachte „jeden Einsatz chemischer Waffen als eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“.
Unterdessen nannte CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen einen Stopp des Baus der Gaspipeline Nord Stream 2 als mögliche Maßnahme gegen Russland. Röttgen, der Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag ist, machte den Kreml direkt für den Angriff verantwortlich. „Jetzt sind wir erneut brutal mit der menschenverachtenden Realität des Regimes Putin konfrontiert worden“, sagte er in den ARD-„Tagesthemen“.
Zur Pipeline Nord Stream 2, die russisches Gas nach Deutschland transportieren soll, sagte Röttgen, eine Vollendung von deren Bau wäre „die maximale Bestätigung“ für Wladimir Putin, seinen bisherigen Kurs fortzusetzen - „denn er wird ja dafür sogar noch belohnt“.
In Washington erklärte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates im Weißen Haus, John Ullyot: „Die USA sind zutiefst besorgt über die heute veröffentlichten Ergebnisse“. Er nannte die Vergiftung Nawalnys „absolut verwerflich“. Ullyot kündigte auf Twitter an, die USA würden mit ihren Verbündeten und der internationalen Gemeinschaft zusammenarbeiten, um die Verantwortlichen in Russland zur Verantwortung zu ziehen, „egal, wo die Beweise hinführen“.
+++ 22.01 Uhr: Die russische Botschaft in Berlin hat die Bundesregierung vor einer „Politisierung“ des Falls Nawalny gewarnt. „Wir rufen unsere Partner auf, jedwede Politisierung dieses Vorfalls zu vermeiden und sich ausschließlich auf glaubwürdige Fakten zu stützen, die hoffentlich schnellstmöglich geliefert werden“, hieß es in einer am Mittwochabend veröffentlichten Erklärung.
Darin fordert die Botschaft die Bundesregierung auch zu einer „möglichst zeitnahen Antwort“ auf ein Rechtshilfeersuchen aus der vergangenen Woche auf, in dem um Informationen zu den deutschen Untersuchungsergebnissen gebeten wurde. „Wir rechnen mit vollwertiger Zusammenarbeit und Informationsaustausch unter Einbeziehung der bestehenden bilateralen rechtlichen Mechanismen.“
+++ 17.38 Uhr: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich zu der erwiesenen Vergiftung von Kreml-Kriitker Alexej Nawalny geäußert. „Es sind bestürzende Informationen“, sagte Merkel. An Russland gerichtet sagte die Kanzlerin: „Das Schicksal Alexej Nawalnys hat weltweite Aufmerksamkeit erlangt. Die Welt wird auf Antworten warten“.
Es sei nun sicher, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden sei, sagt Merkel. „Er sollte zum Schweigen gebracht werden, und ich verurteile das auch im Namen der ganzen Bundesregierung auf das Allerschärfste.“ Bei ihm sei eindeutig ein chemischer Nervenkampfstoff nachgewiesen worden. „Wir erwarten, dass die russische Regierung sich zu diesem Vorgang erklärt“, so Merkel weiter. „Es stellen sich jetzt sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss.“
Gemeinsam mit den Partnern in der Nato und in der EU werde man nun beraten und „im Lichte der russischen Einlassungen über eine angemessene, gemeinsame Reaktion entscheiden“, sagte die Kanzlerin. „Das Verbrechen gegen Alexej Nawalny richtet sich gegen die Grundwerte und Grundrechte, für die wir eintreten.“
+++ 17.28 Uhr: Der Gesundheitszustand des russischen Regierungskritikers Alexej Nawalny ist nach Angaben der Berliner Charité weiterhin ernst. Die Symptomatik der nachgewiesenen Vergiftung sei zwar zunehmend rückläufig. Nawalny werde aber weiterhin auf einer Intensivstation behandelt und künstlich beatmet. Mit einem längeren Krankheitsverlauf sei zu rechnen. Langzeitfolgen der schweren Vergiftung seien weiterhin nicht auszuschließen.
+++ 17.22 Uhr: Die Bundesregierung hat einen „zweifelsfreien Nachweis“ für eine Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny. Dieses Untersuchungsergebnis könnte die ohnehin schon schwer angeschlagenen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland sowie anderen westlichen Staaten noch einmal massiv erschüttern. Ein Nervengift der Nowitschok-Gruppe wurde auch bei der Vergiftung des ehemaligen russischen Doppelspions Sergej Skripal und seiner Tochter Julia im britischen Salisbury 2018 verwendet. Die beiden überlebten nur knapp.
Als Reaktion hatten zahlreiche westliche Staaten russische Diplomaten ausgewiesen. Auch diesmal strebt die Bundesregierung ein abgestimmtes Vorgehen der westlichen Verbündeten an. Man werde in den nächsten Tagen darüber beraten, wie man darauf „angemessen reagieren“ könne, sagte Maas. „Darüber werden wir auch im Lichte dessen entscheiden, wie Russland sich verhält.“
+++ 16.50 Uhr: Das Auswärtige Amt hat wegen der neuen Untersuchungsergebnisse über eine Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny den russischen Botschafter einbestellt. „Ihm wurde dabei nochmals unmissverständlich die Aufforderung der Bundesregierung übermittelt, die Hintergründe dieser nun nachweislichen Vergiftung von Alexej Nawalny vollumfänglich und mit voller Transparenz aufzuklären“, sagte Außenminister Heiko Maas (SPD). Russland müsse die Verantwortlichen ermitteln und zur Rechenschaft ziehen.
Update vom 02.09.2020, 15.55 Uhr: Bei dem in in Berlin in der Charité in Behandlung befindlichen russischen Regierungskritiker Alexej Nawalny wurde nach Angaben der Bundesregierung „der zweifelsfreie Nachweis“ eines chemischen Nervenkampfstoffes aus der Nowitschok-Gruppe erbracht. Das erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch in Berlin.
Auf Veranlassung der Berliner Charité hatte ein Spezial-Labor der Bundeswehr eine toxikologische Untersuchung anhand von Proben Nawalnys durchgeführt. „Es ist ein bestürzender Vorgang, dass Alexej Nawalny in Russland Opfer eines Angriffs mit einem chemischen Nervenkampfstoff geworden ist“, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert. „Die Bundesregierung verurteilt diesen Angriff auf das Schärfste. Die russische Regierung ist dringlich aufgefordert, sich zu dem Vorgang zu erklären.“
Das Auswärtige Amt werde den Botschafter Russlands über die Untersuchungsergebnisse unterrichten und die Bundesregierung werde ihre Partner in EU und NATO darüber informieren. „Ferner wird die Bundesregierung mit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) Kontakt aufnehmen“, erklärte Seibert.
Nawalny, der am 20. August auf einem Flug in seiner Heimat plötzlich ins Koma gefallen war und zunächst in Omsk untersucht wurde, wird auf Drängen seiner Familie in der Berliner Charité behandelt. Die deutschen Ärzte gingen nach einer Auswertung von klinischen Befunden bereits davon aus, dass Nawalny vergiftet wurde. Die russische Regierung hatte die Einschätzung der Berliner Charité, dass Nawalny vermutlich vergiftet wurde, als vorschnell bezeichnet.
Erstmeldung vom 31.08.2020, 17.31 Uhr: Der kremlkritische Aktivist und Journalist Jegor Schukow wurde bei dem Angriff schwer verletzt. Der 22-Jährige musste wegen Platzwunden im Gesicht und wegen des Verdachts auf ein Schädel-Hirn-Trauma in ein Krankenhaus, wie der Radiosender Echo Moskwy berichtet. Schwere innere Verletzungen habe er jedoch nicht erlitten, teilte Schukows Team mit. Er sei mittlerweile wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden.
Schukow, der in Russland ein bekannter Blogger ist, arbeitet für den kremlkritischen Sender Echo Moskwy, nachdem ihm die Justiz verboten hatte, selbst weiter einen Videokanal im Internet zu betreiben. Seine Sendungen haben hohe Einschaltquoten. So interviewte Schukow den Oppositionsführer Alexej Nawalny, der nun wegen schwerer Vergiftungserscheinungen in Berlin in der Charité behandelt wird.
Der Kreml sieht nach eigenen Angaben keinen Zusammenhang zwischen dem Fall Nawalny und dem Angriff auf den Blogger. „Wir wissen nicht, wer Schukow attackiert hat, wir wissen auch nicht warum“, sagte Sprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. „Wir hoffen, dass die Verantwortlichen gefunden und bestraft werden.“
Schukows Team veröffentlichte in den sozialen Netzwerken Bilder von den Verletzungen. Demnach wurde weiter auf den Kopf des jungen Mannes eingeschlagen, als er schon am Boden lag. Zwei unbekannte Männer sollen dem Aktivisten am Sonntag nach einer Sendung vor seiner Wohnung aufgelauert und ihn dann zusammengeschlagen haben.
Die Polizei in Moskau hat nach eigenen Angaben Ermittlungen eingeleitet. Schukows Team zufolge hatten Unbekannte bereits vor einem Monat versucht, ihn vor seiner Haustür zu attackieren. Er habe da aber fliehen können. Es habe mehrfach Drohungen gegeben.
Immer wieder kommt es in Russland zu schweren Angriffen auf Andersdenkende, die kaum je aufgeklärt wurden. Schukow hatte auch einmal gesagt, dass er russischer Präsident werden wolle. Er gilt als talentierter und extrem schlagfertiger politischer Redner. Er ist ein Kritiker von Kremlchef Wladimir Putin und steht beispielhaft für eine Politisierung der Jugend in Russland.
Schukow war im vorigen Jahr als Student auch bei Oppositionsprotesten in Erscheinung getreten. Er saß deshalb erst im Gefängnis, dann über Wochen im Hausarrest. In dieser Zeit gab es in Moskau viele Solidaritätsaktionen. Ein Gericht verurteilte ihn im Dezember zu drei Jahren Haft auf Bewährung und untersagte ihm, für zwei Jahre eigene Webseiten im Internet zu betreiben. Der Sender Echo Moskwy nahm ihn danach in die Redaktion auf.
Sein Schlussplädoyer vor Gericht galt als eine der im vergangenen Jahr am meisten diskutierten Reden in Russland. Er warf darin der Führung in Moskau vor, dass sie die „Entmenschlichung“ als einzige Sozialpolitik konsequent verfolge und die Autokratie die einzige „traditionelle Institution“ sei, die der Staat „ehrt“.
Der 22-Jährige hatte Politikwissenschaft an der renommierten Higher School of Economics in Moskau studiert. Zum neuen Semester wollte er seinen Master in Filmkunst machen. Er habe zunächst eine Zulassung erhalten, dann habe die Hochschule aber mitgeteilt, dass es diesen Studiengang angeblich nicht mehr gebe, sagte er in einem Video. (tom/dpa)
Am Schicksal von Alexej Nawalny wird deutlich: Die Machtstrukturen um Wladimir Putin in Russland sind nicht so homogen, wie sie der westlichen Öffentlichkeit erscheinen.