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Rentenreform in Frankreich: Macron und die „Inflation der Wut“

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Von: Stefan Brändle

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In Marseille brennen die Mülleimer, die eh keiner lehrt. N. Tucat/afp
In Marseille brennen die Mülleimer, die eh keiner lehrt. © Nicolas Tucat/afp

Die französische Regierung drückt auch ohne Parlamentsmehrheit ihre umstrittene Rentenreform durch. Die aufgebrachten Mengen im ganzen Land machen nun mobil.

Paris – Die Hashtags sind unmissverständlich: #revolution einer, #concorde ein anderer. So heißt der Platz gegenüber der Nationalversammlung in Paris, wo Premierministerin Elisabeth Borne am Donnerstag Verfassungsartikel 49.3 nutzte, um die Rentenreform ohne Parlamentsabstimmung in Kraft zu setzen.

„Paris steht seit vier Stunden in Flammen“

Das in Frankreich bekannte – und undemokratische – Vorgehen hat in dem seit Wochen von friedlichen Protesten heimgesuchten Land wie der berüchtigte Funke im Pulverfass gewirkt. Stadtmobiliar brennt, Kracher schallen und Tränengasschwaden ziehen über die Concorde; dazu werfen Vermummte Pflastersteine auf die Gendarmerie. Da und dort Barrikaden. „Es ist 22 Uhr“, twittert einer vor Ort. „Paris steht seit vier Stunden in Flammen.“

Andere triumphieren: „Nur noch 500 Meter vom Elysée entfernt.“ Viel weiter werden sie aber nicht kommen. Die Polizei sichert das Viertel um den Präsidentenpalast mit schwer ausgerüsteten Patrouillen ab. In anderen Landesteilen ist die Lage schwieriger. Beispiel Toulouse: „Die Polizeisperren fallen eine nach der andern.“ In Rennes, Nantes, Lyon, Marseille kommt es zu schweren Ausschreitungen. „Inflation der Wut“ lautet ein Graffiti. Die Polizei setzt Wasserwerfer ein, die Gegenseite Leuchtraketen.

Brennende Mülltonen
Demonstranten setzen in der französischen Hauptstadt Mülltonnen in Brand. © Lewis Joly/AP

Bilanz nach einer brutalen Nacht: 310 Verhaftungen, davon 258 in Paris. Viele Verletzte. Es ist unschwer zu erraten: Die Proteste werden weitergehen. Am Freitag sperrten Gewerkschaft und Fernfahrer den „périphérique“, die Ringautobahn um Paris, was den Verkehr in weiten Teilen der Hauptstadt zum Erliegen brachte.

„Blockiert alles. Wir können noch gewinnen, sie sind allein“, twitterte David Guiraud, junger Abgeordneter der linksradikalen „Unbeugsamen“ (Insoumis). Seine Fraktion hatte am Donnerstag in der ehrwürdigen Nationalversammlung verbotenerweise Schilder mit der Aufschrift „Nein zu Rentenalter 64“ geschwenkt und die Marseillaise angestimmt – mehr als revolutionärer Kriegsgesang denn als Nationalhymne. Das geriet so laut, dass Premierministerin Borne fast übertönt wurde, als sie den ominösen Verfassungsartikel 49.3 aufrief.

Die Methode de Gaulle

Die Staatsführung hatte bis zur letzten Minute versucht, in der 577-köpfigen Nationalversammlung eine Mehrheit für das Anheben des Rentenalters um zwei Jahre auf 64 zu finden. Das Macron-Lager kann aber die konservativen Républicains nicht komplett für die Vorlage gewinnen. Die Notbremse „quarante-neuf trois“ (49.3) besagt, dass die Regierung die Vorlage für angenommen erklären kann – so die Premierministerin sich einer Vertrauensfrage stellt. Charles de Gaulle hatte das 1958 in die Verfassung der Fünften Republik aufgenommen, um damit die chronische Instabilität der Vierten Republik zu beenden.

So konnten sich dann einige Regierungen im Amt halten: Gut 100 Mal kam 49.3 bisher zum Einsatz. Rekordhalter ist Michel Rocard: Der sozialistische Premier von 1988 bis 1991 brauchte den Artikel ganze 28 Mal.

Proteste in Frankreich gehen weiter

Aber die Rentenreform ist nicht durch. Die Proteste gehen weiter, für nächsten Donnerstag ist der nun neunte Aktionstag aufgerufen. Die Linksunion „Nupès“, die Rechten und auch einige unabhängige Abgeordnete haben am Freitag mehrere Misstrauensanträge eingereicht, die von Montag an zur Abstimmung kommen dürften. Der Ausgang ist offen. Dagegen spricht, dass Nupès-Chef Jean-Luc Mélenchon ungern mit Marine Le Pen gemeinsame Sache macht. Und die Konservativen sind wenig erpicht auf Wahlkampf. Es müsste auch „nur“ Premier Elisabeth Borne den Hut nehmen, nicht der Präsident.

Macron sitzt aufgrund der verfassungsgemäßen Machtfülle fest im Sattel. Obwohl er die politische Hauptzielscheibe der Reformgegner ist. Borne hat am Donnerstag selber eingeräumt, sie sei eine „Sicherung“ für den Staatschef. Die Medien fällen aber ein klares Verdikt gegen Macron. „Libération“ spricht von einem „politischen Crash“ des Präsidenten, „Le Monde“ macht eine „leicht entzündbare und gefährliche“ Stimmung im Land aus. Das Fernsehen zeigt Bilder aus Dijon, wo Unbekannte Stoffpuppen von Macron, Borne und anderen verbrannten. „Das hat sich Macron selber zuzuschreiben“, befindet Rechtspopulistin Marine Le Pen, die sich mit der Angabe, das Gesetz wieder aufzuheben, falls sie bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 ins Elysée gewählt wird, neu in Stellung bringt.

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