Experte über „Reichsbürger“: „Der Punkt, wo jemand falsch abbiegt“

Der Psychologe Marius Raab im Interview über die Motivation und die Ideologie der „Reichsbürger“.
Herr Raab, welche Menschen fühlen sich von der „Reichsbürger“-Ideologie angezogen?
In dieser Ideologie steckt etwas drin, was unterschiedlichen Menschen Hilfe gibt oder sogar einen Sinn. Es sind meistens Menschen mittleren Alters, überwiegend männlich. Bei ihnen ist die Vermutung, dass sie durch Veränderungen der Geschlechterrollen den Halt verloren haben oder ihre Stellung in der Gesellschaft bedroht sehen. Dann gibt es Menschen, die aus voller Überzeugung davon ausgehen, dass unsere Gesellschaft so gut wie kollabiert ist. Es gibt auch Überschneidungen zum Rechtsextremismus. Das sind nach Behördenschätzungen aber gar nicht so viele, nämlich zehn bis 30 Prozent.
Was eint sie?
Es gibt Überlappungen allein schon in der Motivation, unseren Rechtsstaat abzulehnen. Die Rechtsextremen lehnen aber unsere Rechtsordnung ab, die „Reichsbürger“ beziehen sich oft auf Gesetze, aus denen sie eine eigene Argumentation ableiten. Das sind zwei ganz unterschiedliche Arten, den Staat zu delegitimieren.
Sind Männer anfälliger für die „Reichsbürger“-Ideologie als Frauen?
Den gemessenen Zahlen nach haben die Männer einen Überhang. In den Verfassungsschutzberichten wird von 30 Prozent Frauen zu 70 Prozent Männern gesprochen. Das kann sich erklären aus dem Verlust der Bedeutung der Geschlechterrollen. Es kann aber auch ein Sichtbarkeitsproblem sein. Es gibt in den Partnerschaften Frauen, die nicht in Onlineforen schreiben und nicht für die Sicherheitsbehörden auffällig sind, die aber das Ganze ideologisch und durch tatkräftige Unterstützung ihres Mannes gutheißen. Die tauchen nicht im Verfassungsschutzbericht auf. Man hat auch jahrelang den Anteil der Frauen im Rechtsextremismus unterschätzt.
„Reichsbürger“ und der Hang zu Waffen: Auch ohne Umsturzfantasien eine Gefahr
Welche Rolle spielen persönliche Kränkungen im Lebenslauf?
Wir sehen bei vielen ideologischen Phänomenen Kränkungen und Brüche. Bei den Biografien von „Reichsbürgern“, die ich mir angeschaut habe, geht es oft um kleine Brüche oder Ungerechtigkeiten, die jedem mal passieren können. Da hat jemand 3000 Euro Schulden oder die Ehe geht auseinander. Das ist dann der Punkt, wo jemand falsch abbiegt. Wenn Persönlichkeit, soziale Umgebung und Kränkung zusammenkommen, kommen sie auf die Idee, den Staat abzulehnen, der in dieser Kränkung eine gewisse Rolle spielt. Das führt dann dazu, ihn zu delegitimieren.
Warum haben „Reichsbürger“ eine Affinität zu Waffen?
Diejenigen, die den Staat umstürzen wollen, können zu dem Schluss kommen, dass dafür Waffen nötig sind. Es gibt aber auch Menschen, die den Staat nicht umstürzen wollen, aber das Ganze verklären wie in Hollywood-Filmen. Zum Beispiel in „I Am Legend“, dem Science-Fiction-Thriller mit Will Smith, oder noch dystopischer in den Mad-Max-Filmen. Solche Elemente finden sich auch in Selbstinszenierungen auf Videoplattformen: Der eine, letzte Kämpfer, der die Waffe braucht, um sich zu schützen, um Tiere zu jagen, um vorbereitet zu sein für die erwartete große Krise. Das ist eine andere Motivlage als Waffen zu horten für einen Umsturz. Gefährlich ist das trotzdem, wie man in Georgensgmünd 2016 gesehen hat. Da hat ein „Reichsbürger“ die Waffe in einer gefühlten Bedrohungslage gegen einen Beamten gerichtet und ihn ermordet. Das zeigt: Nur weil jemand keine Umsturzabsichten hegt, kann eine Waffe trotzdem gefährlich sein.
Kamen die jetzt aufgeflogenen Umsturzpläne für Sie überraschend?
Es hat mich nicht überrascht, dass es eine solche Radikalisierung gab. Nach dem erklärten Ende der Covid-Pandemie sind immer noch viele Menschen enttäuscht über Krisenmanagement und Kommunikation staatlicher Institutionen. Aber der gemeinsame Schirm der protestierenden „Querdenker“ ist weggefallen und damit auch eine Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Das kann zur Radikalisierung führen. Für mich kam tatsächlich überraschend, dass es so organisiert war. Weil es doch eher ein Milieu ist, in dem man Einzelkämpfer gesehen hat. Welche ideologischen und persönlichen Hintergründe die jetzt Festgenommenen aber wirklich haben, auch was eine Schnittmenge mit den „Querdenken“-Aktivisten angeht, sollten wir aber solide analysieren.

Prävention gegen „Reichsbürger“: Das könnte noch getan werden
Festgenommen wurden etablierte Menschen wie Immobilienhändler, Bundeswehrsoldaten, Polizisten, ein Prominentenkoch, eine Richterin. Das sind keineswegs abgehängte Menschen in dieser Gesellschaft. Warum radikalisieren sie sich dann?
Auch mit einem hohen Einkommen oder einem hohen Bildungsgrad kann jemand das Gefühl haben, auf der Stelle zu treten und nicht gehört zu werden. Es haben sich viele Menschen entmündigt gefühlt während der Corona-Pandemie, die finanziell nicht von der Teilhabe ausgeschlossen waren. Eine Radikalisierung kann auch Menschen betreffen, die sechsstellig verdienen und einen Doktortitel haben.
Was bedeutet das für die Präventionsarbeit? Was könnte man tun, um zu verhindern, dass Menschen in diese Szene abdriften?
Gerade wenn wir diesen Teilhabeaspekt betrachten, ist es fatal, wenn Menschen ausgegrenzt werden. Man muss mit den Leuten im Dialog bleiben. Zur Prävention gehört aber auch ein Rechtsstaat, der wehrhaft ist und der bei einer Razzia solche Gefahren abwendet. Aber wenn es noch nicht so weit ist, dann wäre es besser, auf die Menschen einzugehen und zu fragen: Was treibt die an in eine Richtung, die vielleicht auch gefährlich werden kann? Aber das sagt sich leichter, als es ist.
Eben. Wie können denn Staatsbedienstete damit umgehen, die von diesen Leuten angepöbelt werden oder mit hundertseitigen wirren Schriftsätzen bombardiert werden? Kann man wirklich erwarten, dass sie rücksichtsvoll mit solchen Menschen ins Gespräch gehen?
Rücksicht ist das falsche Wort. Ich denke eher an eine professionelle Haltung, die fragt: Wo kommen diese Leute her und was kann man tun? Für Menschen, die dem immer wieder ausgesetzt sind, wäre eine Beratungs-Infrastruktur hilfreich. Für Professionelle, zum Beispiel für Polizistinnen und Polizisten, die täglich angepöbelt werden, wäre ein Support-Netzwerk gut.
Es ist eine Debatte darüber entbrannt, dass der Respekt gegenüber dem Staat nachlassen würde, nicht nur im „Reichsbürger“-Milieu, sondern auch in anderen Szenen. Ist das auch Ihre Wahrnehmung?
Das wird von Amerika überstrahlt, wo selbst der Präsident Donald Trump diese Haltung der Aushöhlung des Staates und seiner Institutionen vorgelebt hat. Der Staat wird als etwas Böses dargestellt, von dem sich die Menschen fernhalten müssten. Das wird re-importiert über Narrative wie QAnon und verfängt auch bei uns immer mehr. Das beobachte ich verstärkt, als Psychologe und als Privatmensch, und das finde ich beängstigend.
Zur Person
Marius Raab ist Psychologe und Informatiker. Er lehrt an der Universität Bamberg. Zu seinen Spezialgebieten zählen Verschwörungsideologien.
(Interview: Pitt von Bebenburg)
Nach der „Reichsbürger“-Razzia hat die Bundesregierung neue Details bekannt gegeben.