Putins Vaterunser

Der Staatschef und Dutzende Popstars schwören Russland auf die blutige Vaterlandsverteidigung ein. Wladimir Putin hat also seine ganz eigene „Spezialoperation“ gefunden.
Die Ukrainer hätten beschlossen, alle zu töten. „Sie töteten jeden Tag, ich habe das Blut der Kinder gesehen“, Konstantin Kusmin trägt auf dem Ärmel seines Tarnanaroks ein großes „Z“, das Wahrzeichen von Wladimir Putins „Kriegsspezialoperation“ gegen die Ukraine. Kusmins Hände zittern vor Aufregung. 15 000 friedliche Einwohner hätten die Ukrainer umgebracht, erzählt der Mann, laut Moderator früher Bergmann und jetzt Bataillonskommandeur, über den Donbass-Krieg – nach UN-Angaben kamen dort insgesamt etwa 3400 Zivilist:innen ums Leben. Aber solche Ungenauigkeiten kümmern niemanden im Stadion. Die Leute auf den gut gefüllten Rängen schwenken angeregt die russischen Trikolore, die schon am Vortag auf jedem Schalensitz platziert worden waren. „Unsere Sache ist gerecht“, rufen Kusmin und andere Redner in Uniform immer wieder. „Der Sieg wird unser sein!“
Am Mittwoch veranstaltete Wladimir Putin in Moskaus größtem Fußballstadion ein über zweistündiges Massenkonzert. Einen Tag nach seiner Rede zur Lage der Nation, am Vorabend des „Tages der Vaterlandsverteidiger“ und zwei Tage vor dem 24. Februar, an dem er vor einem Jahr seinen Feldzug gegen die Ukraine startete, beschwor der Staatschef noch einmal persönlich die Einheit des Volkes.
„Vaterlandsverteidiger, das klingt wie Vaterunser, das bedeutet gleichzeitig etwas Gewaltiges und sehr Nahes“, verkündete der Staatschef während seines kurzen Auftritts. Das ganze Volk sei heute Vaterlandsverteidiger. „Wenn wir zusammen sind“, rief der Präsident, „gibt es niemandem, der es mit uns aufnehmen kann!“
Außer Putin traten vor allem Soldaten mit Einheits- und Siegesparolen auf, es gab Videoclips von Heldensanitäterinnen, die „hunderten“ Frontsoldaten das Leben gerettet hätten. Dann sangen Kinder in der Uniform der „Jungarmee“, ein Fallschirmjägeroffizier rappte gemeinsam mit dem Männerchor der Streitkräfte das Volkslied „Katjuscha“, ein Offizier mit Codenamen „Engel“, der aus den Kellern des zerstörten Mariupols angeblich 367 Kinder gerettet haben soll, bekräftigte: „Wir sind zusammen, wir siegen.“
Die Rockgruppe „Sweroboj“ sang über das Weinen der Kinder bei Erschießungen im Donbass. Es war ein mystisches Konzert, die meist sehr schlichten Akkorde und Texte gerieten oft zu direkten Zitaten der staatlichen Propaganda: „Russland schützen mit der eigenen Brust“ forderte Altstar Oleg Gasmanow in dem 30 Jahre alten Militärschlager „Offiziere“. Gasmanow ist laut dem staatlichen Meinungsforschungsinstitut WZIOM jetzt der populärste Sänger Russlands, gefolgt von Shaman alias Jaroslav Dronov. „Wir stehen auf, solange Gott und die Wahrheit mit uns sind“ sang Shaman, der als Shooting Star der Z-Massenkultur gilt. Der Sibirier hat es laut „Komsomolskaja Prawda“ vergangenes Jahr zum bestbezahlten Sänger Russlands gebracht, streicht pro Konzert umgerechnet 41 000 Euro ein. Dabei folgt er wie die meisten anderen Interpreten im Luschniki-Stadion dem linientreuen Erfolgsrezept Gasmanows, der häufig im Donbass, vor Frontsoldaten und Verwundeten auftritt: „Die Kampfmoral stärken, das ist ja auch eine Art Spezialoperation. Manchmal dröhnt Musik noch lauter als die Geschütze“, sagte Gasmanow in einem Interview.
Laut RIA Nowosti wurden vor dem Konzert 200 000 Menschen erwartet, bei Redaktionsschluss war noch ungewiss, wie viele tatsächlich kamen. Aber sie hörten auch, wie ein Soldat von der Bühne rief: „Erde, die nicht mit Blut übergossen ist, das ist keine Heimaterde!“ Ein Friedenskonzert war die Veranstaltung im Luschniki-Stadion jedenfalls nicht.