Seltene Kritik: Russischer Ex-Minister regt sich plötzlich über Wirtschaft auf

Andrei Netschajew sagt eine bevorstehende Finanzkrise in Russland voraus. Die Ausgaben für den Ukraine-Krieg müssten reduziert werden.
Moskau - Kritik am Kreml ist im Ukraine-Krieg vornehmlich von russischen Militärbloggern zu hören. Vor allem der frühere Geheimdienstoffizier Igor Girkin macht seinem Unmut über die Kriegsführung schon seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine immer wieder Luft. Doch kritische Stimmen finden sich inzwischen auch an anderen Stellen in Russland.
Der frühere Wirtschaftsminister Andrei Netschajew hielt während einer Podiumsdiskussion eines Finanzforums in Jekaterinburg mit seiner Meinung jedenfalls nicht hinterm Berg. „Es ist nicht schlimm, dass wir am Arsch sind“, sagte der 70-Jährige unverblümt. „Es ist aber schlimm, dass wir uns darin häuslich eingerichtet haben.“

Westliche Sanktionen machen russischer Wirtschaft zu schaffen
Mit diesen Worten bezog sich Netschajew explizit auf die Kreml-Führung, die nichts tue, um die schwierige wirtschaftliche Lage im Land zu verändern. Schuld an der Misere seien die wegen des Ukraine-Krieges verhängten westlichen Sanktionen, die Russland im nächsten Jahr in eine Finanzkrise stürzen würden. Noch gebe es genügend Reserven, doch die seien bald aufgebraucht. Die Empfehlung, die er aussprach, war eindeutig: Russland müsse die Ausgaben für den Krieg reduzieren, andernfalls werde das Land im kommenden Jahr auf Auslandskredite angewiesen sein.
Als weitere Gründe für die Krise nannte der 70-Jährige das Haushaltsdefizit, die Massenauswanderung, Kapitalabflüsse ins Ausland und den Rückgang der Öl- und Gaseinnahmen. Wie die britische Zeitung The Times berichtete, fügte er noch hinzu, dass westliche Franchise-Unternehmen wie „McDonald‘s durch russische Pfannkuchen (Blini) ersetzt werden könnten, High-Tech-Produkte jedoch nicht“.
Die offenen Worte überraschen. Unter den von Wladimir Putin eingeführten drakonischen Regeln drohen denjenigen, die die in Russland sogenannte „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine kritisieren, Festnahme und Gefängnis.
Bisher widersteht Russland den Sanktionen – mit Hilfe von China
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat der Westen beispiellose Sanktionen verhängt, unter anderem weitreichende Handelsbeschränkungen. Vor dem G7-Gipfel in Japan kündigten die USA und Großbritannien neue Strafmaßnahmen an. Der US-Regierungsvertreter sagte, alle G7-Staaten bereiteten neue Sanktionen und Ausfuhrkontrollen vor. Zudem geht es beim Treffen der führenden demokratischen Industrienationen auch darum, Schlupflöcher bei bestehenden Sanktionen zu schließen. Ziel sei, den wirtschaftlichen Druck auf Russland zu erhöhen und es noch schwerer zu machen, seine Kriegsmaschinerie zu unterhalten.
Bisher hat die Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft angesichts der zahlreichen Sanktionen viele Fachleute überrascht. Das Bruttoinlandsprodukt des Landes wurde nur geringfügig beeinträchtigt, Lebensmittel stehen immer noch in den Regalen und die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren.
Abkommen mit Ländern wie China haben Russland bisher geholfen, die Lücken zu schließen, die die Sanktionen des Westens gerissen haben. Allerdings scheint Netschajews Aussage den skeptischen Stimmen recht zu geben, die davon ausgehen, dass Moskau die Zahlen und Daten verschleiert, um nicht eingestehen zu müssen, dass der Markt in Russland auf einen Zusammenbruch zusteuert. (cs)