Wagner-Söldner berichten von Scharfschützen-Kreuzfeuer – und Kreml-Lügen im Ukraine-Krieg
Nur wenig Konkretes ist über die Privatarmee der Wagner-Gruppe bekannt. Nun haben wieder zwei Gefangene über ihre Zeit als Söldner gesprochen.
Frankfurt/Kiew - Die Söldner der Privatarmee der Wagner-Gruppe galten insbesondere vor und am Anfang des Ukraine-Krieges als erbarmungslose Kämpfer. Um die von Jewgeni Prigoschin aufgestellte Gruppe ranken sich viele Geschichten und Mythen. Sie stellen die „Schattenarmee“ meist als so effektive wie brutale Kriegsmaschine für das russische Militär und Wladimir Putin dar.

Freilich verbergen sich unter den Helmen und Masken der Söldner auch nur Menschen. Chris Hughes, Redakteur des britischen Mirror, hat nun in einem Interview mit zwei Wagner-Söldnern gesprochen, die sich in ukrainischer Kriegsgefangenschaft befinden. Ihre Pseudonyme: Anatoli und Viktor. Was haben die beiden zu berichten? Wie haben sie sich der Privatarmee angeschlossen und welche Menschen verbergen sich hinter den Masken?
Wagner-Söldner im Interview: „Prigoschin hat uns einen Neustart versprochen“
Das Treffen geschah offenbar unter dem Gebot strikter Anonymität. Beide Ex-Söldner hätten ein Balaklava getragen, um ihre Identität zu schützen, heißt es. Der Ort, an dem Hughes die Söldner der Wagner-Gruppe sprach, blieb ebenfalls geheim - unklar ist wohl auch, wie offen sie sprechen konnten. Viktor ist angeblich 32 Jahre alt. Er sei verheiratet, habe zwei Kinder und komme aus der Region Stawopol im Nordkaukasus. Bei einer Schlägerei soll er einen Tschetschenen erstochen haben. Das Gericht verurteilte den ehemaligen Bauarbeiter dem Bericht zufolge zu 20 Jahren Haft.
In seinem neunten Jahr seiner Haftstrafe habe Prigoschin Viktor höchstpersönlich rekrutiert. Mit einem Privathelikopter soll der Wagner-Chef angereist sein, um neue Rekruten zu finden. „Prigoschin hat mir und 200 anderen Inhaftierten einen Neustart versprochen, wenn wir für ihn in der Ukraine kämpfen. Es war für mich der letzte Ausweg, um nach der Haft auch einen Beruf zu finden“, beschrieb Viktor die Rekrutierung und seine Beweggründe. Nichtsdestotrotz habe er eine Woche mit sich gerungen, bevor er das Angebot annahm.
„Wir sollten unser Land verteidigen“ - Wagner-Söldner berichten von „Lügen“ der Führung
„Mir wurde erzählt, in der Ukraine kämpfen wir gegen den ganzen Westen. Wir sollen dort lediglich unser Land verteidigen. Wir sollten nur gegen Faschisten und Soldaten aus fremden Länder kämpfen - nicht gegen Zivilisten“, sagte Viktor im Interview zum Redakteur des Mirror. Nach einem sechswöchigen Training sei es für ihn im September 2022 an die Front gegangen.
„Meine Verwandten wussten nicht einmal, dass ich mich der Wagner-Gruppe angeschlossen habe“, erzählte Viktor. Dabei habe er schnell erkannt, dass den Truppen der Söldner Lügen aufgetischt werden. „Sie sagten uns vor meinem ersten Einsatz, wir werden auf zehn Gegner treffen. Plötzlich standen 40 vor uns“, erinnerte sich der 32-Jährige.
Wagner-Söldner spricht von Erlebnissen an der Front - „Ein Scharfschütze hat zwei meiner Kollegen getötet“
Zugleich berichtete er von seinen ersten Eindrücken im Gefecht, als er und seine Kameraden plötzlich im Visier eines Scharfschützen standen. „Zuerst hat er einem Kollegen in den Fuß geschossen. Zwei andere hat er getötet. Ich habe noch nie zuvor gesehen, wie ein Mensch ein Bein verliert“, schilderte Viktor seinen ersten Kampfeinsatz.
Vor jedem Einsatz habe er sich stark gefürchtet, berichtete der Ex-Häftling. „Ich habe gesehen, wie Arme und Beine von Körpern gesprengt wurden. Es war furchtbar und schockierend“, sagte er Hughes. Bei seinem vierten Einsatz sei Viktor von einem Schrapnell getroffen worden, das ihn kampfunfähig machte.
Angst vor Gefangennahme durch ukrainische Soldaten - „Uns wurde gesagt, sie würden uns umbringen“
Ukrainische Soldaten hätten ihn in Kriegsgefangenschaft genommen, was für Viktor nach eigenen Angaben zunächst keinerlei Erleichterung darstellte. „Uns wurde gesagt, die Ukrainer töten ihre Gefangene. Das war auch eine Lüge. Ich wurde sehr gut behandelt“, sagte Viktor. Wie viele ukrainische Soldaten er selbst getötet habe, wisse er nicht.
Er entschuldige sich aber, dass Russland diesen Krieg angefangen hat. „Krieg ist schlecht. Am Ende leiden nur die Zivilisten darunter“, sagte der 32-Jährige. Auf die Frage, ob Viktor seine Frau und Kinder wiedersehen möchte, lachte der 32-Jährige angeblich nur.
Wagner-Söldner erzählt von Treffen mit Prigoschin - „Er ist ein sehr ernsthafter Mann“
Auch der 26-jährige Anatoli aus Samara ist nach eigenen Angaben Familienvater. Die Wagner-Gruppe rekrutierte ihn seiner Schilderung zufolge ebenfalls aus dem Gefängnis. Ein Gericht habe den Automechaniker nach einer Schlägerei zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Auch Anatoli hat seinen Worten zufolge persönlich mit Prigoschin gesprochen, den er als einen „sehr ernsthaften“ Mann beschrieb.
„Mir war klar, dass ich in der Ukraine kämpfen werde“, sagte Anatoli und führte weiter aus: „Nach der Ankunft an der Front ist mir direkt aufgefallen, dass es einen Unterschied zwischen der regulären Armee und den Wagner-Truppen gibt.“ Dieser Unterschied habe darin bestanden, dass die Truppen der Privatarmee immer an vorderster Front kämpften.
Wagner-Söldner erklärt „wahre Mission“ der Privatarmee - „Wir sollten die Ukraine einnehmen“
Bei seinem fünften Einsatz hätten ihn die ukrainischen Streitkräfte gefangengenommen. An seinen letzten Einsatz erinnere er sich noch sehr gut. „Ein Scharfschütze hat zehn meiner Kameraden ausgeschaltet. Ich war alleine und von Soldaten eingekesselt. Zehn weitere sollten meine Position verstärken, doch der Scharfschütze tötete fünf von ihnen“, beschrieb Anatoli die Situation.
Ohne Munition habe er auf dem Schlachtfeld gelegen. „Ein ukrainischer Soldat streckte den Lauf seines Gewehres in mein Gesicht. Dann schoss er zwischen meine Beine, um mich zu warnen“, sagte Anatoli in dem Interview. Seiner Vermutung nach hat die Wagner-Gruppe eine klare Anweisung von der russischen Regierung erhalten. „Wir sind in der Ukraine gewesen, um das Land einzunehmen - es ging nie darum, Russland zu verteidigen“, urteilte Anatoli gegenüber dem Mirror.
Mittlerweile verschärfen sich aber auch die Spannungen zwischen Moskau und dem Wagner-Chef. Prigoschin wirft der russischen Führung vor, Intrigen zu spinnen.