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Russlands Gefängnisschikanen – Psychoterror gegen Nawalny

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Von: Stefan Scholl

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Alexej Nawalny
Alexej Nawalny © Pavel Golovkin/AP/dpa

Einem Filmbericht zufolge ist der inhaftierte Putin-Kritiker massiven Schikanen ausgesetzt – wie auch andere Gefangene.

Pokrow – Als Alexei Nawalny im Juni dieses Jahr nach seinem Hungerstreik aus dem Wladimirer Gefängniskrankenhaus in die Strafanstalt IK-2 im Städtchen Pokrow zurückkehrte, montierte die Anstaltsleitung eine Wandtafel. Darauf waren Bilder zweier Hähne aufgeklebt sowie Fotografien Nawalnys und eines anderen Gefangenen. Hähne bedeuten im russischen Gefängnisslang passive Homosexuelle.

Kürzlich veröffentlichte der Oppositionskanal TV Doschd einen Film über die psychischen Schikanen, die im Gefängnis gegen Russlands berühmtesten Häftling angewandt werden. Zu Wort kommen vor allem zwei Mitgefangene Nawalnys, die inzwischen freigelassen wurden, Nariman Osmanow und Jewgeni Burak. Sie berichten von Sprechverbot, nächtlicher Masturbation und anderen Provokationen gegen Nawalny. „Sie alle haben das Ziel, den Menschen zu brechen“, sagt Osmanow.

Russland: Tuberkulose-Kranker angeblich in Nawalnys Zelle verlegt

Vollzugsbeamte zeigten den Gefangenen einen sogenannten Lehrfilm, in dem der Oppositionspolitiker als schwul dargestellt wird. In dem Film gibt es Fotos, wo Nawalny jemanden mit Umarmung begrüßt, der auf anderen Aufnahmen mit einem Mann im Bett liegt. Laut Osmanow fand Nawalny in den ersten drei Tagen nach seiner Rückkehr keinen Schlaf. Sein Bettnachbar habe alles getan, um ihm auf die Nerven zu gehen, er habe dazu Geräusche von sich gegeben und nächtelang onaniert. Als Nawalny vorher hungerstreikend im Bett lag, habe die Lagerobrigkeit frühmorgens in der nahen Küche Wurst braten lassen, der Duft sollte seinen Widerstandswillen schwächen. Später verlegte man einen Mann auf die Nachbarpritsche, der angeblich an offener Tuberkulose litt.

Die Belegschaft der zweiten Abteilung der Haftanstalt, in der Nawalny sitzt, wurde vor seinem Eintreffen neuzusammengestellt. Die Vollzugsbeamten befahlen seinen Mitgefangenen, nicht mit Nawalny zu reden. Die „Aktivisten“, Gefangene, die gemeinsame Sache mit der Lagerleitung machten, folgten Nawalny tagelang, „einer hinter, einer vor ihm“, so Usmanow. Sie schrieben jedes Wort von ihm auf. Auch Beleidigungen seien an der Tagesordnung gewesen, um Nawalny zu provozieren.

Nawalny mit nutzt Geheimsprache um im Gefängnis sprechen zu können

Aber offenbar scheiterte der Versuch, Nawalny zu isolieren. So verabredeten er und Usmanow Gespräche beim Reckturnen auf dem Sportplatz. „Wir machten aus, dass, wenn ich in der Gruppe ,ja‘ sage, das ,nein‘ bedeutet“, erzählt Usmanow. Auf diese Weise habe er Nawalny mitteilen können, dass der angeblich tuberkulöse Bettnachbar gar nicht krank gewesen sei. „Die Sicherheitsorgane missbrauchen ihre Vollmachten gegen Nawalny wie gegen Zehntausende andere Strafgefangene“, sagt Wladimir Ossetschkin von der Gefangenenrechtsgruppe Gulagu.Net der FR. „Sie nutzen ihre Vertrauensleute unter den Häftlingen, um Nawalny zu diskreditieren und zu provozieren.“ Er werde nicht geschlagen, vergewaltigt oder auf andere Weise physisch gefoltert, wie etwa die Häftlinge im Saratow, von wo Gulagu.net im Oktober umfangreiche Foltervideos veröffentlichte. „Aber sie veranstalten seelisches Pressing, um ihn in einen Nervenzusammenbruch zu treiben.“ Jedoch kann Nawalny regelmäßig mit seinen Anwälten sprechen, Blogs und sogar Interviews veröffentlichen, er gilt als VIP-Häftling. „Im Gegensatz zu gewöhnlichen Lagerinsassen drohen ihm in absehbarer Zukunft keine physischen Misshandlungen“, sagt Ossetschkin. Davor rette ihn die öffentliche Unterstützung und vor allem die Aufmerksamkeit der internationalen Presse.

Sergei Jaschan, Ex-Kriminalbeamter und Mitglied der Öffentlichen Beobachterkommission, die in der Region Wladimir die Rechte der Strafgefangenen überwacht, versicherte TV Doschd, Nawalny habe bei zwei Gesprächen mit ihm keine Beschwerden geäußert. Nawalny äußerte sich wiederholt mit Humor: In einem Interview mit der „New York Times“ sagte er, der Tagesablauf in der Strafanstalt gefalle ihm als Frühaufsteher sehr. Man versuche zwar immer wieder, ihn zu provozieren, aber er betrachte seine Haft inzwischen als ausgezeichnetes christliches Praktikum, auch was Feindesliebe angehe. Nawalny sitzt in Pokrow bis Ende Juli 2023 eine Haftstrafe nach einer umstrittenen Verurteilung wegen Betrugs ab. Doch in weiteren Strafverfahren wegen Extremismus, Betrugs und Richterbeleidigung drohen ihm mehr als zehn Jahre Haft zusätzlich. (Stefan Scholl)

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