Piñera sieht sich seit dem 19. Oktober mit beispiellosen sozialen Protesten konfrontiert. Die Demonstranten fordern seinen Rücktritt und eine grundlegende Änderung der Wirtschaftspolitik der chilenischen Regierung, die sie für die soziale Misere weiter Bevölkerungskreise verantwortlich machen.
Am Freitag hatte es in der Hauptstadt Santiago und mehreren anderen Städten Massenproteste mit mehr als einer Million Teilnehmern gegeben. Es war eine der größten Demonstrationen, die es je in Chile gegeben hatte. Entzündet hatten sich die Proteste an einer Erhöhung der Preise für U-Bahn-Tickets.
Ursprüngliche Meldung: Der Geruch nach verbranntem Plastik liegt in der Luft, Rauchwolken schweben über Chiles Hauptstadt Santiago. Seit Freitag brennen Barrikaden in der ganzen Stadt, Demonstranten machen Lärm mit Kochtöpfen bei den sogenannten „cacerolazos“. Sie rufen „Chile Despertó“, Chile ist aufgewacht. Alles begann mit der Erhöhung der Fahrpreise, doch inzwischen geht es um mehr.
Anfang Oktober würden die Preise für die U-Bahn von 800 auf 830 Pesos erhöht, umgerechnet entspricht das etwa vier Euro-Cent. Daten der Fundación Sol zufolge verdienen mehr als zwei Drittel der Chilenen weniger als 500 000 Pesos im Monat. Allein die Fahrt zur Arbeit und zurück kostet sie schon jetzt ein Fünftel des Monatslohns. Vor einer Woche begannen die Proteste mit gezielten, kollektiven Schwarzfahr-Aktionen. U-Bahn-Stationen wurden zerstört. Am Freitag eskalierte die Situation, in der gesamten Hauptstadt wurde protestiert – und längst nicht mehr nur wegen des U-Bahn-Preises.
„Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre Machtmissbrauch“, sagt Catalina Magaña von der Studentenorganisation Confech, und meint damit die Politik der Regierungen nach Chiles Rückkehr zur Demokratie. Das war 1989, nach dem Ende der Pinochet-Diktatur. „Wir haben genug von den miserablen Renten, von den hohen Wasserpreisen und den hohen Studiengebühren“, sagt sie. „Wir haben genug davon, dass wir uns verschulden müssen, um zu überleben.“ Das Land stehe vor dem Kollaps, alles sei privatisiert und die Privilegien hätten nur einige wenige. „Es ist Zeit, dass die Regierung uns endlich hört.“
Die reagiert jedoch reagiert mit Gewalt und Repression auf die andauernden Proteste. Freitagnacht rief Präsident Sebastián Piñera den Notstand aus, am Samstag eine Ausgangssperre. Solche Schritte wurden das letzte Mal während der Militärdiktatur 1987 ergriffen. Mittlerweile hat die Regierung allein in Santiago rund 10 000 Soldaten und Panzerwagen auf die Straße geschickt. Polizisten und Militärs gehen gewaltsam gegen die Demonstranten vor, mehrere wurden angeschossen. Den Behörden zufolge gibt es mittlerweile mehr als 1500 Festnehmen. Mindestens neun Menschen starben, 44 Personen haben beim Nationalen Institut für Menschenrechte Verletzungen durch die Polizei und Militärs registriert. Die Dunkelziffer liegt vermutlich noch viel höher. Supermärkte, Apotheken und Geschäfte wurden geplündert und angezündet.
In seiner Rede am Sonntagabend rief Piñera die Chilenen dazu auf, „gemeinsam gegen die Verbrecher und Randalierer“ zu kämpfen, hinter denen eine kriminelle Organisation stecke. „Wir befinden uns im Krieg gegen einen gefährlichen Feind“, sagte er im Nationalfernsehen TVN. In allen chilenischen Fernsehkanälen werden Bilder von der Zerstörung gezeigt, von langen Schlangen und Geldautomaten.
Unter dem Demonstranten fühlen sich dagegen viele an die Militärdiktatur erinnert. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch einmal erleben muss“, sagt etwa ein 62-Jähriger, der am Samstag vor dem Regierungspalast La Moneda protestiert. „Wir haben so lange gegen Pinochet und die Militärs gekämpft und jetzt haben wir wieder Soldaten auf den Straßen.“ Hier hat sich eine Menschenmenge versammelt, um der Regierung ein Schreiben zu übergeben. „Wir fordern, dass der Ausnahmezustand sofort aufgehoben wird“, ruft Manuel Diaz, Sprecher einer Gewerkschaftsvereinigung, den Versammelten zu. Es könne nicht sein, dass die Regierung Piñera nach der Diktatur wieder die Militärs auf die Straße schicke, „die unser Land zerstört haben. Wir werden das nicht erlauben“. Die Menge applaudiert. „Fuera los Milicos“ – „Militärs raus“, rufen die Demonstranten.
Am Sonntag treffen sich verschiedene soziale Organisationen und Gewerkschaften im ehemaligen Folterzentrum Londres 38 in der Hauptstadt Santiago, um für Montag zum Nationalstreik aufzurufen. „Piñera, tritt zurück“, steht auf einem großen Plakat. „Wir rufen alle Arbeiter und Arbeiterinnen und alle Gewerkschaften dazu auf, am Montag die Arbeit niederzulegen und auf den Straßen zu protestieren“, erklärte Saúl Vargas von der Confederación Nacional de Trabajadores CNT, die über 300 Gewerkschaften im Land vereint. „Das ist der erste Schritt, um diese falsche Demokratie zu überwinden und eine bessere Zukunft für alle Chilenen und Chileninnen zu schaffen.“
Die Proteste haben sich mittlerweile auf das gesamte Land ausgeweitet. Die Regierung dehnte den Notstand und die nächtliche Ausgangssperre auf alle großen Städte des Landes und insgesamt 16 Regionen aus.
Auch am Montag blieben Schulen, Banken und öffentliche Einrichtungen geschlossen. Busse und die Metro in Santiago de Chile fuhren nur auf wenigen Strecken. Die Proteste sollen weitergehen, obwohl die Fahrpreiserhöhung inzwischen ausgesetzt ist.
Wie eine Oase im unruhigen Lateinamerika - so beschrieb Chiles Präsident Piñera noch vor kurzem sein Land. Doch plötzlich gibt es dort Proteste und Tote. Höhere Preise für die U-Bahn sind nur der Funken, der lang aufgestauten Frust entzündet hat.
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