Pressefreiheit in Deutschland: Journalismus im Stresstest

Deutschlands Medien sind vielstimmig. Doch gewaltsame Angriffe und wirtschaftliche Zwänge bedrohen die Vielfalt.
David Berndt schreibt eher E-Mails, telefoniert oder liest Messenger-Dienste. Doch an diesem Tag erhält der Lokalreporter der „Sächsischen Zeitung“ einen Brief. Absender: Polizeidirektion Görlitz. Eine Vorladung zur Anhörung, Tatvorwurf der Verleumdung. Ihm rutscht das Herz in die Hose, zumal er sich nicht erinnern kann, Verbotenes getan zu haben. Als Reporter ist er viel auf Corona-Protesten unterwegs, und genau darum geht es: Denn einer seiner Online-Artikel zeigt einen Teilnehmer der unangemeldeten Demo im Bild, wie er einen Reporter von „Spiegel TV“ bedroht und den Kameramann schlägt.
Die Vorladung macht Berndt sprachlos: Der Beitrag sei „sauber recherchiert“ gewesen. „Wir würden ihn wieder so drucken und online stellen.“ Er sei „nicht der einzige Journalist in Sachsen, dem Verleumdung vorgeworfen wird“, sagt er. „Rechtliche Schritte sind offenbar ein Mittel, um gegen freie Berichterstattung vorzugehen.“
Deutschland rutscht in der aktuellen Rangliste der weltweiten Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen weiter ab, für die Top Ten reicht es längst nicht mehr. Schon 2021 ist das Land um zwei Plätze auf Rang 13 abgesackt, hinter Costa Rica und Belgien. Im Ranking 2022, das am Dienstag dieser Woche erschienen ist, setzt sich der Negativtrend fort: jetzt nur noch Rang 16 für Deutschland..
Pressefreiheit in Deutschland: „Man ist schon vorsichtiger unterwegs“
Journalist:innen sind auch im relativ freien Deutschland gefährdet: Sie werden beschimpft und angepöbelt, Rechtsextreme halten „Mahnwachen“ vor ihren Wohnungen ab, andere veröffentlichen Adressen oder „Feindeslisten“ im Internet. Blogs wie „PI News“ gerieren sich als öffentliche Pranger für Medienschaffende und Andersdenkende und orchestrieren Shitstorms. Das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit zählte vergangenes Jahr 83 gewaltsame Angriffe auf Journalist:innen.
Rund drei Viertel ereigneten sich im Umfeld von Demonstrationen, knapp 40 Prozent davon im rechtsextremen Spektrum, vielerorts aber auch auf Protestmärschen der „Querdenker“, die sich nicht mehr eindeutig einem bestimmten politischen Spektrum zuordnen lassen. Vor allem Lokalreporter:innen seien davon betroffen, schreiben die Studienautor:innen. Dessen fatale Konsequenz: Medienschaffende zögen sich aus Sorge um die eigene Sicherheit von der Berichterstattung zurück.
David Berndt von der „Sächsischen Zeitung“ lässt sich nicht einschüchtern, zumal er um den Beistand einer funktionierenden Redaktion weiß: Die Rechtsabteilung seiner Zeitung stärkt ihm den Rücken und sagt die polizeiliche Vorladung aus Görlitz ab. „Das hilft mir enorm, mich auf meine tägliche Arbeit zu konzentrieren“, sagt der Lokalreporter. Doch freie Journalist:innen oder Blogger:innen ohne den Schutzmantel eines Verlages sind umso heftiger dem rauen medienpolitischen Klima ausgesetzt. „Gefühlt ist man schon vorsichtiger unterwegs“, sagt Berndt, der immer wieder erlebt, wie Kolleg:innen online beschimpft oder anderweitig unter Druck gesetzt würden.
Deutschland
Deutschland ist nicht nur politisch föderal organisiert. Auch wenn es der Berliner „Tagesspiegel“ vermutlich nicht gerne hört: Berlin ist nicht die Medienhauptstadt. Stattdessen erscheinen die wichtigsten überregionalen Tageszeitungen in München, Berlin und Frankfurt, die größten öffentlich-rechtlichen Sender sitzen in Mainz (ZDF), Köln (WDR) und Hamburg (NDR). Die reich-weitenstarken Privatsender wie RTL oder Pro Sieben senden aus Köln oder München. Das Boulevardblatt „Bild“ residiert nach seinem Umzug aus Hamburg hingegen seit einigen Jahren an der Spree.
Unter dem wachsenden Konkurrenzdruck vergleichsweise neuer Medien wie Fernsehen und Internet ist die deutsche Zeitungslandschaft in den vergangenen Jahrzehnten in die Krise geraten. Die Auflagen haben sich im neuen Jahrtausend halbiert, dafür steigen die Digitalerlöse. Als ein Beispiel dient da die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: Die vermeldete Ende 2021 rund 200 000 Digital-abos und kündigte zugleich an, 25 neue Stellen in Redaktion und Verlag zu schaffen. Das mag wenig erscheinen – nach 20 Jahren Zeitungskrise ist das aber viel. mben
Solche „Lügenpresse“-Rufe oder gar körperliche Attacken haben eine Vorgeschichte: Bei etwa einem Fünftel der Bevölkerung, schätzt der Greifswalder Medienwissenschaftler Klaus Beck, habe Journalismus an Glaubwürdigkeit und Vertrauen verloren. Etabliert habe sich stattdessen ein „Missverständnis von Kommunikationsfreiheit, nach dem gerade online alles erlaubt ist“, sagt Beck. Nach dem fragwürdigen Motto „Man wird doch nochmal sagen dürfen...“ würden somit immer offener herabsetzende, beleidigende und zum Teil hetzerische Botschaften verbreitet, sagt der Wissenschaftler. Und nicht immer würden die Sicherheitsbehörden für ausreichend Schutz sorgen, da man dort tendenziell dort „auch von schädlichen Medienwirkungen ausgeht, für die wir nur im Ausnahmefall empirische Belege haben“.
Die toxische Mischung - der Generalverdacht gegen „die Medien“, herrschende Eliten oder tonangebende Gruppen - zieht sich durch die Gesellschaft. Meinungsfreiheit ist in diesem Spannungsfeld ein heiß umkämpfter Begriff, der sehr unterschiedlich definiert wird - und auch die Wissenschaftsfreiheit betrifft: Im vergangenen Jahr haben sich mehr als 70 Wissenschaftler:innen zusammengeschlossen, um sich gegen eine angebliche „Cancel Culture“ an Universitäten zu wehren, weil dort abweichende Meinungen nicht mehr toleriert würden, so ihr Vorwurf. Befeuert werden die Debatten durch Themen, die besonders emotionalisieren, wie Zuwanderung, die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg.
Wissenschaftler:innen und Medienschaffende arbeiten unter wirtschaftlich schwierigen Bedingungen: Der personal- und ausbildungsintensive Print-Journalismus ist durch die Jahrzehnte währende Zeitungskrise unter Druck geraten und erfindet sich in neuem digitalen Gewand erst allmählich neu. Doch der digitale Journalismus ist für die Verlage noch nicht so lukrativ wie einst der anzeigenstarke Zeitungsjournalismus. erst recht nicht in Krisenzeiten: Während die Reichweiten in Krisenzeiten steigen, belasten die Bilder von Butscha und anderen Gräueltaten in der Ukraine – so zynisch es klingen mag – den Werbemarkt. Welches Unternehmen will Reklame schalten, wenn daneben Bilder verstümmelter Leichen zu sehen sind?
Pressefreiheit in Deutschland: Journalismus verschwindet nicht
Dennoch: Die Medienvielfalt ist groß: 2021 nutzten laut ARD/ZDF-Onlinestudie fast 67 Millionen Menschen das Internet. Die Online-Medien der Verlagshäuser und der Sender bauen ihre Angebote mit Podcasts und Videos rasant aus, während der Zeitungsmarkt durch Zusammenführungen von Redaktionen unter Stress steht. Steigende Papierpreise und kaum zu finanzierende Auslieferungen beschleunigen die Digitalisierung, während die Bezieher:innen von Abos gehalten werden sollen.
Was das für die Pressevielfalt bedeutet, kann man in Münster sehen. Dort sind die Regionalzeitungen „Münstersche Zeitung“ und „Westfälische Nachrichten“ zu einer Zentralredaktion eingedampft worden, wie es sie häufig gibt (die FR bezieht Artikel des Redaktionsnetzwerkes RND). Doch Journalismus verschwindet nicht: Das Startup „Rums“ versucht, die Leerstelle mit ihrem Münster-Newsletter zu füllen, der rund 2000 zahlende Abonnent:innen haben soll. Das ist für eine 300 000-Einwohner-Stadt nicht viel, gibt aber Anlass zu Hoffnung: Journalismus .erfindet sich neu.