Studie mit niederschmetterndem Ergebnis: Warum Polizeigewalt selten verfolgt wird
Polizeigewalt wird immer wieder dokumentiert. Aussagekräftige Daten fehlen – bis jetzt. Eine Studie zeigt das Ausmaß.
Frankfurt – Ein Mann wird geschlagen. Erst mit der Faust, dann mit der flachen Hand. Er geht zu Boden. Ein Polizist drückt ihm sein Knie in den Nacken. Der Mann blutet im Gesicht. Während die Polizei ihn als aggressiv beschreibt, spricht der Betroffene von grundloser Gewalt. Für ihn ist es eine schwierige Lage – bis im Januar 2023 wiederhergestellte Videoaufnahmen den Fall von Polizeigewalt in Idstein zeigen.
Idstein ist jedoch kein Einzelfall. Immer wieder werden in Deutschland Fälle von übermäßiger Polizeigewalt bekannt. Videos dokumentieren Grenzüberschreitungen vonseiten der eigentlichen Ordnungshüter – wie etwa Schläge und Tritte. Kritische Stimmen bemängeln zudem strukturellen Rassismus bei der Polizei. Häufig kommt es jedoch nicht zu Ermittlungen. Selten kommt es zu Konsequenzen. Wie hoch die Zahl von unberechtigter Polizeigewalt ist, ist damit weitestgehend unklar.
„Übermäßige Gewaltanwendung“ durch Polizei: Studie liefert erstmals Erkenntnisse
Das Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol) will das ändern. Seit 2018 untersuchen Forschende Polizeigewalt und ihre strafrechtliche Aufarbeitung in Deutschland. Ursprünglich war das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt an der Ruhr-Universität Bochum angesiedelt, seit 2022 ist es an der Frankfurter Goethe-Universität beheimatet. Zwei Zwischenberichte 2019 und 2020 hatten bereits für Aufsehen gesorgt. Nun legt das Team um Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau, Luise Klaus und Tobias Singelnstein eine Studie vor.
Die Forschenden verstehen „übermäßige Gewaltanwendung“ durch die Polizei als Handlungen, die aus Perspektive von Betroffenen, Anwältinnen und Anwälten, der Polizei sowie anderen Befragten „Grenzen des Akzeptablen überschritten haben“. Die Forschungsgruppe zählt damit auch Verhalten, das nicht zwingend rechtswidrig ist, allerdings aus mindestens einer Perspektive so bewertet wird. Die weite Definition ermöglicht auch die Untersuchung des Dunkelfeldes, also bisher unbekannten Fällen von unrechtmäßiger Gewalt durch die Polizei.
Studie zu Polizeigewalt deckt großes Dunkelfeld auf
Die Erkenntnis der Untersuchung: Das Dunkelfeld ist um ein Vielfaches größer als das Hellfeld von 2790 behördlich bekannten Ermittlungsverfahren gegen Beamtinnen und Beamten wegen rechtswidriger Gewalt im Jahr 2021 ist. Von den 3300 Befragten, mit denen die Forschenden gesprochen haben, gaben lediglich 14 Prozent an, dass ein Strafverfahren stattgefunden habe.

Betroffene von Polizeigewalt zeigen die Fälle also in den wenigsten Fällen an. Laut den Forschenden ist die geringe Aussicht auf Erfolg eine Ursache. Nur zwei Prozent der angezeigten Fälle wird laut Staatsanwaltschaften Anklage erhoben. Im Durchschnitt aller Verfahren sind es dagegen 22 Prozent. Ein weiterer Grund sind Gegenanzeigen durch die Polizei – knapp ein Drittel der Befragten gab an, selbst angezeigt worden zu sein.
Warum werden die meisten Verfahren gegen die Polizei eingestellt?
Das Missverhältnis lässt sich laut den Fachleuten nicht nur auf ungerechtfertigte Anzeigen zurückführen. Stattdessen gebe es in diesen Verfahren strukturelle Besonderheiten:
- Tatverdächtige Polizistinnen und Polizisten können nicht identifiziert werden
- Objektive Beweise fehlen, so dass Aussagen gegeneinander stehen
- Staatsanwaltschaften und Justiz schätzen Polizistinnen und Polizisten häufig als besonders glaubwürdig ein
- Mangelnde Ausstattung der Justiz
- Vorurteile gegen Betroffene von Polizeigewalt, die als unglaubwürdiger eingeschätzt werden
- Polizistinnen und Polizisten im Zeugenstand sind nicht neutral
„Der Staat tut sich schwer damit, Fehlverhalten der eigenen Bediensteten zu ahnden, weil ihm der neutrale Blick auf seine eigenen Amtsträger*innen fehlt“, schließen die Forschenden. Hinzu komme die besondere Definitionsmacht der Polizei in der Gesellschaft. Es sei Aufgabe der Polizei, Situationen verbindlich zu klären und bestimmte Normen, Interessen und Deutungsweisen durchzusetzen. Aber auch im Nachhinein habe die Polizei eine Definitionsmacht.
„Für Betroffene übermäßiger polizeilicher Gewaltanwendungen zum Beispiel entsteht so eine Situation, in der sie ohne Mechanismen, die der polizeilichen Dominanz entgegenwirken, in der Praxis kaum zu ihrem Recht kommen können“, erklären die Forschenden. Auch für die Polizistinnen und Polizisten gebe es hohe Hürden, Gewalt der Kolleginnen und Kollegen zu kritisieren oder anzuzeigen.
Er sei überrascht, wie wenig Problembewusstsein Polizei und Justiz hätten, sagte Kriminologe Tobias Singelnstein dem WDR. Als Beispiel nennt er, dass jemand, der Polizeigewalt anzeigen wolle, nur zur Polizei gehen könne. Sein Team fordert deshalb eine unabhängige Kontroll- und Beschwerdestelle für die Polizei. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International hatten das gefordert.
Wo kommt Polizeigewalt am häufigsten vor?
Von den etwa 3300 Betroffenen von übermäßiger Polizeigewalt gaben 55 Prozent an, diese bei Demonstrationen und anderen politischen Aktionen erlitten zu haben. Die zweitmeisten Fälle (25 Prozent) gab es bei Fußballspielen und anderen Großveranstaltungen. 20 Prozent der Fälle gab es außerhalb von Großeinsätzen. Dabei gab es die meisten Fälle in Situationen, in welchen die Polizei wegen eines Konflikts gerufen wurde sowie bei Kontrollen.
Wer ist von Polizeigewalt am meisten betroffen?
Fast Dreiviertel (72 Prozent) der in der Studie Befragten waren männlich, wobei der Männeranteil bei Fußballspielen und Großevents besonders hoch war. Mit 32 Prozent Frauen und vier Prozent non-binären Menschen war der Anteil nicht männlicher Betroffener von Polizeigewalt bei Demonstrationen und politischen Aktionen besonders groß. Insgesamt sind eher jüngere Personen betroffen: Der Altersdurchschnitt lag bei 25,9 Jahren.
16 Prozent der Befragten hatten eine Migrationsgeschichte, der Anteil an People of Color lag bei fünf Prozent. Sie waren am häufigsten außerhalb von Großveranstaltungen von unverhältnismäßiger Gewalt durch die Polizei betroffen, etwa bei Personenkontrollen sowie Konflikten, zu welchen die Polizei gerufen wurde. Besonders marginalisierte Personen seien von Polizeigewalt betroffen, stellen die Forschenden in der Studie fest.
Diejenigen, die unverhältnismäßig Gewalt anwenden, sind überwiegend männlich und unter 30 Jahre alt. In 81 Prozent der in der Studie untersuchten Fälle sei auch eine Polizistin anwesend gewesen, jedoch hätten nur in 27 Prozent der Fälle Polizistinnen die Gewalt ausgeübt.
Was sind die Gründe für übermäßige Polizeigewalt?
Betroffene geben Fragen zur Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahme, Diskussionen, Beleidigungen und Respektlosigkeiten als Faktoren an, die übermäßige Polizeigewalt begünstigen. Die von den Forschenden Befragten nennen vor allem schlechte Kommunikation, Stress, Überforderung, diskriminierendes Verhalten und schlechte Einsatzplanung als Gründe für die Eskalation. Auch Sorge vor Kontrollverlust gehöre dazu.
Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Gewalt im Einsatz werde laut der Studie jedoch nicht nur anhand des Rechts bewertet. Für die Polizei gehören auch Aspekte der Legitimität und Praktikabilität der Gewalt dazu. Pragmatische Erwägungen der Effizienz und Effektivität könnten dabei rechtliche Vorgaben überlagern.
Gewalt sei im Recht jedoch als „Ausnahmebefugnis“ konzipiert, die nur in sehr engen Grenzen erlaubt sei, heißt es in der Studie. Das Recht sei handlungsleitend für sie, erklärten die Polizistinnen und Polizisten laut Forschenden in der Studie. Dennoch habe sich gezeigt, dass „Gewaltanwendungen zum polizeilichen Berufsalltag gehören und entsprechend normalisiert werden“. Die Schwelle, was übermäßig sei, liege bei der Polizei vergleichsweise hoch.
Das Forschungsteam weist jedoch darauf hin, dass die Studie nicht repräsentativ sei und damit nicht für die deutsche Bevölkerung generalisiert werden könne. (ms)