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„Ohne die Ehe wären Menschen freier“

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Von: Tatjana Coerschulte

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„Viele Menschen heiraten, ohne sich zu fragen, ob das überhaupt das Richtige für sie ist“, sagt Emilia Roig. Susanne Erler/Ullstein
„Viele Menschen heiraten, ohne sich zu fragen, ob das überhaupt das Richtige für sie ist“, sagt Emilia Roig. © © Susanne Erler/Ullstein

Die Politologin und Feministin Emilia Roig provoziert mit ihrem Buch „Das Ende der Ehe“ und stößt eine Debatte über die Zukunft des Heiratens an. Ein Gespräch über eine staatlich geförderte Institution, von der nur die Männer profitieren.

Frau Roig, in Ihrem Buch fordern Sie „Das Ende der Ehe“. Sie waren aber selbst einmal verheiratet. Warum haben Sie geheiratet?

Ich habe geheiratet, weil ich meinen damaligen Mann geliebt habe – und weil ich, glaube ich, sehr beeinflusst war von gesellschaftlichen Erzählungen über die Liebe und was passieren soll, wenn man verliebt ist und sich an einen anderen Menschen bindet. Die Ehe habe ich damals betrachtet als eine notwendige Etappe in meinem Leben, ohne mich aber zu fragen, was die Ehe für mich bedeutet. Viele Menschen heiraten, ohne sich zu fragen, ob das überhaupt das Richtige für sie ist.

Wie hat die Ehe Ihr Denken über die Ehe beeinflusst?

Natürlich hat sie meine Sicht beeinflusst auf die Ehe als einem Konstrukt und einer Konstellation von zwei Menschen. Sie hat mir auch klar gezeigt, dass Frauen in einer Ehe in die häusliche Sphäre gedrängt werden. Sie werden in der Ehe dazu verleitet, dass ihre Rolle die Erziehung der Kinder ist, dass sie für das Wohlergehen der Familie ihre Lohnarbeit reduzieren oder aufgeben sollten und dass sie sich aufopfern müssen. Das wird gefördert durch ein Steuersystem, das solche Konstellationen unterstützt: eine Person, die mehr verdient und einer Lohnarbeit nachgeht, und die andere Person, die die Care-Arbeit überwiegend übernimmt und eventuell dann nur Teilzeit arbeitet. In den meisten Fällen ist es der Mann, der Vollzeit arbeitet, und die Frau, die zu Hause bleibt.

Wird diese Rollenverteilung durch die Ehe verursacht?

Größtenteils ja. Es sind die Ehegesetze, die das fördern, und das steuerliche Ehegattensplitting. Ohne Ehe wären beide Partner freier zu entscheiden, wer zu Hause bleibt oder ob sie sich das aufteilen wollen. Im Moment ist es so, dass Paare, die egalitär aufgestellt sein wollen, verlieren. Sie müssen dann mehr Steuern zahlen, das ist ein Nachteil. Bis vor nicht allzu langer Zeit waren die Frauen außerdem unter der wirtschaftlichen und politischen Obhut des Mannes, so dass sie viele Entscheidungen nicht treffen konnten ohne den Ehemann.

Homosexuelle haben lange dafür gekämpft, einander heiraten zu dürfen. War das falsch?

Nein, solange es diese wirtschaftlichen und rechtlichen Vorteile für Hetero-Paare gibt, sollte es sie auch für gleichgeschlechtliche Paare geben. Es ist aber schade, dass das nicht zu einer grundsätzlichen Debatte geführt hat über die Ehe – dass niemand gefragt hat, brauchen wir die Ehe überhaupt noch? Dazu ist es nicht gekommen, weil die Ehe eine sehr machtvolle Institution ist. Diese Diskussion hätte aber dazu führen können, dass wir über diese Abhängigkeitsverhältnisse, die durch die Ehe gefördert werden, sprechen.

Heutzutage muss aber niemand heiraten, der eigentlich nicht will. Der soziale Druck ist doch nicht mehr so stark wie in den 19050er oder 1960er Jahren.

Nein, man muss nicht, aber man sollte – das wird einem vermittelt. Die Vorteile, die man durch eine Ehe bekommt, sind für viele überzeugend. Es gibt viele Menschen, die nicht unbedingt heiraten wollen, spätestens nach dem zweiten Kind ist dann aber klar: Okay, wir wären schön blöd, nicht zu heiraten, weil wir dadurch viel Geld sparen können. Aus diesem Grund heiraten viele Menschen, nicht weil sie von der Institution überzeugt sind.

In Ihrem Buch stellen Sie es so dar, dass die Ehe den Männern nützt, den Frauen aber nicht. Inwiefern?

Die Ehe nützt den Männern als Gruppe in jedem Fall, weil sie zum Beispiel dadurch an mehr Kapital kommen. Wenn die Steuerregelungen dazu führen, dass die Männer mehr Lohnarbeit verrichten, dann verdienen sie mehr als Gruppe und mehr als Einzelpersonen. Und im Kapitalismus ist Geld Macht, innerhalb und außerhalb der Beziehung. Die Männer haben dann mehr Möglichkeiten, frei über ihr Leben zu entscheiden. Wenn sie sich trennen, sind sie nicht abhängig von ihren Ehefrauen. Männer profitieren auch von der Ehe, weil sie dann zu Hause eine Person haben, die die Mehrheit der Care-Arbeit übernimmt, umsonst, für sie und ihre Kinder. Studien zeigen, dass verheiratete Männer glücklicher und gesünder als unverheiratete Männer sind – und als verheiratete Frauen. Im Gegensatz dazu haben Männer, die getrennt sind und allein bleiben, ein höheres Risiko, krank zu werden. Mit einer Frau zu leben, macht also in der Regel auch glücklich, würde ich sagen.

Liegt es dann an der heterosexuellen Konstellation, wenn sich die Rollenverteilung in einer Beziehung früher oder später einschleicht?

Ja, das hängt an der Heterosexualität, weil die Heterosexualität ist gesellschaftlich codiert. Sie ist nicht einfach eine Beziehung, die einfach nur zwischen zwei Menschen entsteht. Sie entsteht zwischen einem Mann und einer Frau, und deshalb gibt es bestimmte Normen und Verhaltensweisen, die mit dieser Paarung einhergehen. Deswegen finde ich persönlich es sehr schwierig, mit einem Mann in einer Beziehung zu sein und mich zugleich von diesen Normen und Erwartungen zu befreien. In gleichgeschlechtlichen Beziehungen fällt das weg. Man kann sich entfalten, ohne dass diese patriarchalen Rollenmuster eine so große Rolle spielen. Natürlich gibt es auch schwule oder lesbische Paare, die heteronormativ sind. Da droht die Gefahr, dass diese Muster reproduziert werden.

Zu Person & Thema

Emilia Roig , 40 Jahre, ist Politikwissenschaftlerin und Aktivistin für Intersektionalität und Antidiskriminierung. Die Französin hat in Berlin und Lyon studiert. Sie lebt in Berlin, wo sie das von ihr gegründete Center for Intersectional Justice leitet. Roig ist Mutter eines Sohnes, geschieden und lebt mit einer Partnerin.

Die Ampelkoalition hat kürzlich ihre Pläne zur Änderung der Familienbesteuerung vorgestellt: Im Kern will sie die monatliche Steuerlast gerechter verteilen. Das sogenannte Faktor-4-Modell soll zukünftig die bisherige Kombination der Steuerklassen 3 und 5 ersetzen und auch Paare mit unterschiedlich hohem Einkommen besserstellen. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir wollen die Familienbesteuerung so weiterentwickeln, dass die partnerschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche Unabhängigkeit mit Blick auf alle Familienformen gestärkt werden.“ Seit Jahren wird kritisiert, das Ehegattensplitting behindere Frauen in ihrer Berufstätigkeit, weil sich diese in vielen Fällen nicht für sie lohne.

Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe, Ullstein-Verlag, Berlin 2023, 384 Seiten, 22,99 Euro.
Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe, Ullstein-Verlag, Berlin 2023, 384 Seiten, 22,99 Euro. © Ullstein

Was könnten Frauen tun, um diese schleichende Rollenverteilung in einer Ehe zu verhindern?

Das ist schwierig, denn wenn es Kinder gibt, muss man sich um die Kinder kümmern. Wenn es von Anfang klar war, dass die Frau nach der Schwangerschaft eine Auszeit nimmt, wird sie ihre Lohnarbeit aussetzen und reduzieren müssen. Das Hauptproblem ist: Wenn Frauen sich um die Kinder kümmern wollen, dann sollte es für sie möglich sein, das zu tun, ohne dass sie benachteiligt und später bestraft werden – wenn sie zum Beispiel bis zum Alter von 40 oder 45 ihr Leben den Kindern gewidmet haben und deswegen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr kompetitiv sind.

Aber wie könnten Frauen so eine Entwicklung verhindern?

Nicht nur die Frauen sollten etwas tun, um diese Rollenverteilung zu vermeiden. Auch die Männer und die gesamte Gesellschaft sollten die Care-Arbeit aufwerten, damit diejenigen, die diese Arbeit leisten – zu Hause und gesamtgesellschaftlich – nicht mehr so benachteiligt werden. Es ist meiner Meinung nach nicht die Lösung, dass jetzt alle Frauen mehr Lohnarbeit nachgehen sollten. Männer sollten meiner Meinung nach ihre Lohnarbeit reduzieren und mehr Care-Arbeit übernehmen. Wünschen wir uns eine Gesellschaft, in der die Care-Arbeit wie eine heiße Kartoffel behandelt wird? Schnell, schnell, die Kinder müssen weg? Nein. Das ist eine sehr wertvolle, wichtige Arbeit für unsere Gesellschaft, und dennoch wird sie unterbewertet.

Sie schreiben: „Ehe und Liebe sind für das sozioökonomische Überleben von Frauen entscheidend.“. Was ist mit einer Ausbildung?

Es gibt viele Frauen, die für sich allein stehen, Single sind und gut verdienen. Entscheidend ist aber: Wenn Frauen in heterosexuellen Beziehungen leben und Kinder haben wollen, werden sie in der Mehrheit der Fälle abhängiger vom Mann. Es sei denn, sie entscheiden sich bewusst dagegen. Diese Verbindung von finanzieller Abhängigkeit und Liebe ist etwas, das wir nicht einfach ausblenden können. Die finanzielle Abhängigkeit der Frauen von den Männern ist eine wichtige Säule des Patriarchats.

Beziehen Sie das „sozioökonomische Überleben“ der verheirateten Frau auf eine bestimmte geografische Region?

Ich spreche jetzt über Deutschland und Europa. Es gibt Teile der Welt, wo die Situation verschärft ist, es gibt aber auch Regionen, wo die Ehe nicht mehr so prägend ist wie hier, wo die Steuersysteme nicht darauf abzielen, dass die Leute in monogamen Paarbeziehungen leben.

Sie reflektieren auch über den Zusammenhang von Sexarbeit und unbezahltem Sex in der Ehe, über männliche Dominanz und den Stellenwert der Penetration in der Sexualität. Ist unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht nicht inzwischen etwas weiter als Sie es darstellen?

Ja und nein. Wir sind weiter gekommen, aber wir sind nicht so weit gekommen, dass diese Kritik nicht mehr aktuell ist. Ich versuche, eine ehrliche Kritik am Patriarchat zu liefern. Das Patriarchat ist kein abstraktes System – das Patriarchat ist die konkrete Macht der Männer in der Gesellschaft. Und diese Macht der Männer wird auch auf der sexuellen Ebene ausgeübt. Das ist eine ehrliche, objektive Beobachtung zum Patriarchat. Wir leben in einer Gesellschaft, wo jeden dritten Tag eine Frau getötet wird von ihrem Partner. Die Macht und die Gewalt der Männer ist real.

Ein Kapitel Ihres Buches heißt aber: „Nicht alle Männer“.

Ja, da geht es um den Einwand, dass nicht alle Männer so seien. Das stimmt. Und gleichzeitig bedeutet das Patriarchat Macht für alle Männer, auch wenn sie nicht aktiv dafür kämpfen und es nicht aktiv anwenden. Ich glaube, das ist ein Aspekt, über den wir nicht genug sprechen und der uns in der Auseinandersetzung fehlt.

Wie könnten Frauen die Unterdrückungsmechanismen, die Sie beschreiben, aufbrechen?

Die Arbeit liegt nicht nur, aber auch bei den Frauen. Frauen muss es bewusst werden, dass sie mitmachen, ohne es zu merken, und in manchen Dingen auch zu gefällig sind. Es hilft zum Beispiel nicht, über das Patriarchat zu sprechen, wenn die Frauen das zu lieb machen, ohne viel Nachdruck, um die Männer zu schonen. Können Frauen keine Gesellschaftskritik leisten, ehrlich sein und auf Augenhöhe sprechen? Das verlangt Mut, es ist aber wichtig, dass Frauen zu sich stehen und die Wut und den Widerstand, die dadurch bei den Männern ausgelöst werden können, aushalten können.

Von der rechtlichen Situation her gesehen kann man heute zusammenleben wie man möchte. Man kann heiraten oder nicht, man kann eine eingetragene Partnerschaft haben oder gar keine formale Bindung, es können Männer und Frauen oder mehrere Personen in Gemeinschaften leben. Gleichzeitig wird jede zweite bis dritte Ehe geschieden. Überschätzen Sie die Ehe?

Ich überschätze die Ehe nicht. Nennen Sie mir eine einzige Person, die nie über die Ehe nachgedacht hat: Wann werde ich heiraten? Will ich heiraten oder nicht? Wen werde ich heiraten? Es gibt niemanden, der niemals über die Ehe nachgedacht hätte! Und niemand kann behaupten, von der Ehe unberührt zu sein. Die Ehe strukturiert immer noch unsere Vorstellungen, unsere Lebenswege, unsere Wirtschaft, unsere Kultur, die Spiele der Kinder – sie strukturiert alles.

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