Denn ohne die Zustimmung der fünf Atommächte USA, Russland, Volksrepublik China, Großbritannien und Frankreich hätte das Vertragswerk keine praktische Bedeutung für die Schaffung einer nuklearfreien Welt. Und es gibt bisher keinerlei Anzeichen dafür, dass diese Atomstaaten ihr Monopol an Nuklearwaffen freiwillig aus der Hand geben würden. Trotz der scheinbaren Aussichtslosigkeit erscheint bei genauerem Hinsehen jedoch eine realistische Chance für eine umfassende nukleare Abrüstung durchaus denkbar – das Konzept gemeinsame Sicherheit öffnet dafür ein Fenster.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat der Perspektive einer gemeinsamen Sicherheit mit Russland in Europa erheblichen Schaden zugefügt. Liefert aber diese Aggression den Persilschein für die vorher im Grunde „hirntote“ und nun dank Putin zum Leben wiedererweckte Nato?
Deren mit Kriegen und Völkerrechtsverletzungen durchzogene Geschichte belegt, dass sie weder für die Sicherheit Europas und erst recht nicht für die Sicherheit in der Welt eine glaubwürdige Alternative verkörpert. Die Nato hat zur Entstehung des Kalten Krieges erheblich beigetragen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde sie praktisch in den Dienst der amerikanischen Vorherrschaft in der Welt gestellt und als ein äußerst wirksames Instrument zur rasanten Steigerung der Rüstungsaufträge für den US-militärindustriellen Komplex missbraucht. Die zwei Prozent Aufrüstung pro Jahr wurde von der Nato erfunden.
Die Menschen in der Ukraine brauchen Frieden, aber es herrscht Krieg. Welche Wege können zum Frieden führen? Welche Rolle soll Deutschland dabei spielen?
In der Serie #Friedensfragen suchen Expertinnen und Experten nach Antworten auf viele drängende Fragen. Dabei legen wir Wert auf eine große Bandbreite der Positionen – die keineswegs immer der Meinung der FR entsprechen.
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Statt die von Ronald Reagan und Michael Gorbatschow in den 1990er Jahren begonnene nukleare Abrüstung zu Ende zu führen, wurde sie gestoppt und ein neues System von weltraumgestützten Erstschlagraketen in Osteuropa obendrauf gesetzt. Die USA haben seit 1990 in zahlreichen Ländern, so 1993 in Somalia, 1999 in Jugoslawien, 2001 in Afghanistan, 2003 im Irak, 2011 in Libyen und 2014 in Syrien, Kriege geführt und dabei die Nato-Staaten mit hineingezogen. Die meisten dieser Kriege waren völkerrechtswidrig, lieferten somit die Folie für Russlands Kriege in der Ukraine. Wäre das von Willy Brandt und Egon Bahr entwickelte Konzept der gemeinsamen Sicherheit mit Russland und Gorbatschows Vorschlag des gemeinsamen europäischen Hauses aufgegriffen worden, wäre die Menschheit mit den russischen Kriegen in der Ukraine niemals konfrontiert worden.
Die Welt braucht in allen Bereichen umfassende Kooperation, vor allem aber zur Überwindung der Klimakrise und globaler Konflikte. Die Nato ist jedoch ein konfrontatives Militärbündnis und schürt obendrein das nukleare Wettrüsten. Dagegen setzt gemeinsame Sicherheit umfassende Kooperation voraus, und sie liefert die Schlüssel für atomare Abrüstung.
Könnte Russland zu einem solchen Schritt bereit sein, ausgerechnet jetzt, da es einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt? Der Versuch muss zumindest unternommen werden, auch wenn die Chancen angesichts des aktuellen Krieges schlecht stehen. Denn gemeinsame Sicherheit ist für Russland perspektivisch die konsequenteste Antwort auf die Nato.
Russland und China wären potenzielle Gewinner einer nuklearfreien Welt, Russland wegen seiner ökonomischen Schwäche und die Volksrepublik China wegen ihrer militärischen Unterlegenheit gegenüber den USA. Allerdings ist diese Perspektive überhaupt nur denkbar, wenn diese Nuklearmächte bei den Verhandlungen für die Schaffung einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur ihre Bereitschaft zur nuklearen Abrüstung glaubwürdig unter Beweis stellen würden.
Denn kein westliches Land wäre bereit, sich ohne die perspektivische Überwindung der nuklearen Bedrohung auf eine gemeinsame Sicherheit einzulassen. Je weiter die Perspektive einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur in Europa mit Russland und in Asien zwischen Japan, Südkorea sowie anderen westlich orientierten Staaten Asiens mit China voranschreitet, desto höher steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die mächtigen nuklearen und hegemonialen Befürworter in den USA die politische Legitimation für ihre ohnehin perspektivlose wie zerstörerische Politik verlieren und daher gezwungen sein werden, sich ebenfalls auf nukleare Abrüstung einzulassen.
Mohssen Massarrat ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück.