Um Russland aufzuhalten: Expertin fordert Nato-Einladung an Ukraine

Der kommende Nato-Gipfel in Litauen könnte wegweisend für den Verlauf des Ukraine-Kriegs sein. Laut einer Expertin birgt er das Potenzial, Russland aufzuhalten.
München/Vilnius – Der kommende Nato-Gipfel in Litauen könnte den weiteren Verlauf des Ukraine-Kriegs maßgeblich prägen. Im Herbst vergangenen Jahres beantragte die Ukraine den beschleunigten Beitritt zur westlichen Militärallianz, viele Mitglieder des Verteidigungsbündnisses reagierten jedoch zögerlich. Eine konkrete Beitrittsperspektive könnte Russlands Präsidenten Wladimir Putin provozieren, so die Befürchtung. Die Politik-Expertin Judy Dempsey hält eine Nato-Einladung der Ukraine indes für den richtigen Weg, um Russland aufzuhalten.
Nato-Einladung an Ukraine rote Linie?
Im Ukraine-Krieg galt die Lieferung von Panzern oder Kampfflugzeugen lange als rote Linie. Diese einstigen Tabus sind längst keine mehr, Leopard-Panzer und MiG-29 sind bereits im Kriegsgebiet angekommen. Könnte bald auch das Tabu eines Nato-Beitritts der Ukraine fallen? Noch zögern Länder wie Deutschland, Kiew einen Fahrplan für den Beitritt anzubieten, einen sogenannten Membership Action Plan. Ein solcher Schritt könnte Russland verärgern, so die Sorge.
Moskau hatte seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 auch unter dem Vorwand gestartet, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine verhindern zu wollen. Als Reaktion auf die Nato-Osterweiterung durch den Beitritt Finnlands im April gab der Kreml etwa an, Atomraketen im Nachbarland Belarus stationieren zu wollen.
Zudem würde ein Nato-Beitritt der Ukraine auch Artikel 5 in Kraft setzen, der Mitglieder der Militärallianz dazu verpflichtet, ihren Bündnispartnern im Falle eines Angriffs beizustehen. Es stehen auch praktische Fragen im Raum. Denn Voraussetzung für einen Nato-Beitritt ist, dass der Mitgliedskandidat nicht in Streitigkeiten um Grenzverläufe oder internationale Konflikte verwickelt sein darf.
Expertin kritisiert Angela Merkels Ukraine-Entscheidung im Jahr 2008
Die Politik-Expertin Judy Dempsey kritisierte, dass Deutschland und Frankreich ein Beitritts-Angebot an die Ukraine bislang ablehnten und verweist auf die Entscheidung der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Bukarest-Gipfel im Jahr 2008. „Die Weigerung der Nato im Jahr 2008 gab Putin grünes Licht für einen Einmarsch in Georgien im selben Jahr, in die Ukraine im Jahr 2014 und erneut im Jahr 2022“, argumentiert Dempsey in einem Beitrag für die Denkfabrik Carnegie Europe, die sich unter anderem mit der Reduzierung globaler Konflikte befasst.
Die USA hatten sich im Jahr 2008 für eine Nato-Erweiterung um Georgien und die Ukraine eingesetzt, Deutschland und Frankreich waren dagegen. Am Ende des damaligen Gipfels gab es nur eine vage Zusage, dass die Ukraine eines Tages dem Verteidigungsbündnis beitreten werde. Auch bei einem Treffen im November des vergangenen Jahres bestätigten die Nato-Außenminister erneut die „offene Tür“ für die Ukraine, ohne jedoch einen konkreten Zeitplan nennen. Bündnis-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach von einer „langfristigen Perspektive.“
„Fehler der Vergangenheit“: Bill Clinton und Henry Kissinger ändern Meinung zur Ukraine
Der kommende Nato-Gipfel findet ab dem 11. Juli in Vilnius, der Hauptstadt des Gastgeberlandes Litauen, statt. Dies sei der rechte Zeitpunkt, um „Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und entschiedene Schritte auf dem Weg zur Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu unternehmen“, forderte kürzlich der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba.
Dass Entscheidungen zur Ukraine in der Vergangenheit teilweise fehlerhaft waren, glaubt offenbar auch der ehemalige US-Präsident Bill Clinton. Der Politiker bezeichnete das Budapester Memorandum von 1994, an dessen Verhandlung er maßgeblich beteiligt war, kürzlich als falsche Entscheidung. „Ich fühle mich persönlich betroffen, weil ich sie [die Ukraine] dazu gebracht habe, ihre Atomwaffen aufzugeben“, so Clinton in einem Interview mit irischen Fernsehsender RTE. Russland hätte den Angriffskrieg nicht vom Zaun brechen können, wenn die Ukraine diese Waffen noch gehabt hätte, vermutete der Ex-US-Präsident.
Auch der frühere US-Außenminister Henry Kissinger änderte kürzlich seine Meinung. Der 99-Jährige hatte lange Zeit gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine Position bezogen. „Vor diesem Krieg war ich gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, weil ich befürchtete, sie könnte genau den Prozess starten, den wir jetzt sehen“, hatte der Friedensnobelpreisträger Mitte Januar beim Weltwirtschaftstreffen in Davos per Videoschalte gesagt. Unter den jetzigen Voraussetzungen sei „die Idee einer neutralen Ukraine nicht länger sinnvoll.“ Ein Nato-Beitritt wäre eine „angemessene Folge“ der russischen Invasion, so Kissinger weiter.
Nato-Mitgliedschaft der Ukraine „psychologische Barriere“ für einige Mitgliedsstaaten?
Die Politikexpertin Dempsey führt den Meinungswechsel der ehemaligen US-Entscheidungsträger als Beweis ins Feld, dass ein Nato-Beitritt der Ukraine nun der richtige Schritt sei und warnt davor, dass „jede Zweideutigkeit oder Ausflucht“ auf dem kommenden Nato-Gipfel in Vilnius den Krieg verlängern und Putin in die Hände spielen würde. Auch das Gastgeberland Litauen teilt diese Ansicht offenbar.
Denn Anfang April stimmte das litauische Parlament dafür, sich beim kommenden Gipfel um eine offizielle Einladung an die Ukraine zur Aufnahme in die westliche Militärallianz zu bemühen. „Wir glauben, dass die Ukraine zu unserer Sicherheit beitragen und die Nato stärken wird“, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Zygimantas Pavilionis, zur Begründung der Entscheidung.
Es bleibt jedoch fraglich, ob alle Nato-Mitglieder das unterstützen. „Einige sehr gute Freunde der Ukraine haben mehr Angst vor einer positiven Antwort auf den Antrag auf eine Nato-Mitgliedschaft als davor, der Ukraine die modernsten Waffen zu liefern“, gab der ukrainische Außenminister Kuleba in einem Interview mit dem Politmagazin Politico zu bedenken. „Es gibt noch viele psychologische Barrieren, die wir überwinden müssen.“ Die Idee der Mitgliedschaft sei eine davon, so Kuleba weiter. (bme)