Wegen dramatischen Medikamenten-Engpässen: Jetzt schaltet sich die EU ein

Mit ihrem Pharmapaket will die Kommission den EU-Bürgern einen besseren Zugang zu Medikamenten ermöglichen. Neue Medikamente bleiben unter Umständen bis zu 13 Jahren geschützt.
Dieser Artikel liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Europe.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Europe.Table am 27. April 2023.
Erschwinglich. Zugänglich. Verfügbar. So lauten die drei Schlagworte, mit denen die Kommission ihr neues Pharmapaket beschreibt. Eine Richtlinie, eine Verordnung sowie eine Ratsmitteilung sollen dafür sorgen, dass die Menschen in der EU medikamentös besser versorgt werden. Von einem „epischen“ Paket sprach EU-Vizekommissar Margaritis Schinas: „Noch nie in der Geschichte der EU konnten wir so viel im Bereich der öffentlichen Gesundheit tun.“ Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides: „Wir schaffen einen Binnenmarkt für Medikamente.“ Sie zitierte sogar Bono, den Sänger von U2: „Where you live should not determine whether you live, or whether you die.“
Damit lehnen sich die Kommissare weit aus dem Fenster. Auch nach der Stärkung der EU-Gesundheitspolitik durch EU4Health und HERA hat die Kommission wenig Kompetenzen im Gesundheitsbereich. Sie kann beispielsweise nicht auf Beschaffungspreise und Preisgestaltung in den EU-Mitgliedstaaten einwirken. Diese Kompetenz liegt bei den Mitgliedstaaten. Vielleicht ruderte Kyriakides auch deswegen wenig später zurück und sagte: Man wolle ein Ökosystem schaffen, welches den Zugang zu Medikamenten vereinfacht.
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Momentan bestimmt in der EU nämlich sehr wohl der Wohnort die medikamentöse Versorgung. In Deutschland wurden 2018 beispielsweise 104 Medikamente auf den Markt gebracht, welche 2015 bis 2017 ihre Zulassung erhielten. In Polen waren es nur 24.
Möglicher Interessenskonflikt?
Eigentlich wollte die Kommission die Überarbeitung der rund 20 Jahre alten Pharmagesetzgebung bereits vor Monaten vorstellen. Immer wieder hat sie den Termin verschoben. Zuletzt soll sich Kommissionspräsidentin von der Leyen persönlich mit dem strittigen Dossier befasst haben, wie es in gut informierten Kreisen heißt.
Manche Abgeordnete sehen darin einen möglichen Interessenkonflikt. Der Ehemann der Kommissionspräsidentin, Heiko von der Leyen, fungiert als medizinischer Direktor des auf Gen- und Zelltherapie spezialisierten Biotech-Konzerns Orgenesis. „Man sollte sicherlich die Frage aufwerfen, wie neutral Frau von der Leyen hier agieren kann“, kommentierte die Grünen-Abgeordnete Tilly Metz. Die Kommission hat bis Redaktionsschluss nicht auf unsere Anfrage reagiert.
Längerer Schutz an Bedingungen geknüpft
Die Pharmaindustrie hatte in den vergangenen Monaten großen Lobbydruck auf die Kommission ausgeübt. In dem Paket scheint die Behörde einige Zugeständnisse an die Branche gemacht zu haben. Schinas nennt Pharma einen „europäischen Champion“.
So plant die Kommission, den Schutzzeitraum von neuen Medikamenten unter Umständen zu verlängern. Bisher gilt der Markt- und Unterlagenschutz für zehn bis elf Jahre. Die Kommission will bausteinförmig vorgehen: Der reguläre Schutz soll mindestens acht Jahre gelten. Wenn die Hersteller gewisse Bedingungen erfüllen, gibt es Ausnahmen: bei gleichzeitiger Markteinführung in allen Mitgliedstaaten, Deckung eines medizinischen Bedarfs oder Durchführung vergleichender klinischer Studien kann der Schutz bis zu zwölf Jahre und bei Arzneimitteln für seltene Krankheiten bis zu 13 Jahre betragen.
Zum Vergleich: In den USA reicht der Marktschutz unter Bedingungen bis zu maximal zwölf Jahre, in der Schweiz bis zu zehn Jahre. Ein längerer Schutz bedeutet auch: Es dauert länger, bis Generika auf den Markt kommen. Sprich, die Hersteller kontrollieren länger die Preisgestaltung für den Wirkstoff.
Die Branche moniert jedoch, dass der modulare Ansatz der Kommission kürzeren Schutz bedeute. „Das Ziel, die Versorgung mit neuen Medikamenten zu fördern, wird ganz klar verfehlt. Reduziert sich der Schutzzeitraum, demotiviert dies die Unternehmen, die kostenintensive Forschung für neue Medikamente weiterhin hier zu betreiben“, kritisiert Wolfgang Große Entrup vom Verband der Chemischen Industrie (VCI).
Kontroverses Gutschein-System
Ein neues Voucher-System stärkt laut Kritikern ebenfalls die Pharmakonzerne. Die Kommission spricht von einem „neuartigen und innovativen“ Tool, um die Entwicklung neuer Antibiotika zu fördern. Denn dazu habe es bisher zu wenig Anreize gegeben, so Kyriakides.
Wenn ein Unternehmen ein neues Antibiotikum entwickelt, so steht ihm künftig ein zusätzliches Jahr Marktschutz zu. Konkret könnte der Schutz eines Medikamentes dann also bis zu 13 Jahre (bei Medikamenten für seltene Krankheiten bis 14 Jahre) anhalten. Kostenpunkt für die Kommission: ungefähr 500 Millionen Euro pro Gutschein.
Kritiker bemängeln: Das Pharmaunternehmen kann den Gutschein auf jedes Medikament anwenden und ihn an ein anderes Unternehmen verkaufen. Da die Gutscheine die Markteinführung von Generika verzögern, will die Kommission sie auf zehn Voucher in 15 Jahren begrenzen.
Bereits im Vorfeld haben Europaabgeordnete und Mitgliedstaaten diesen Ansatz kritisiert. „Die Konzerne können den zusätzlichen Schutz auch für ihre teuersten Medikamente nutzen. Das passt nicht zum Ziel der Kommission, Medikamente erschwinglicher zu machen“, kritisierte etwa die Grüne Tilly Metz. Der Meinung ist auch die Abgeordnete und Ärztin Véronique Trillet-Lenoir (Renew): „Antimikrobielle Resistenzen sollten stattdessen durch den Einsatz innovativer Lösungen, die Reduzierung der Verschreibungen und die Stärkung der Rolle der neuen Gesundheitsbehörde HERA bei der Suche nach neuen Antibiotika bekämpft werden.“ (Charlotte Wirth)