Die Perle des Pazifiks

Lima prosperiert, eine Mittelschicht wächst heran, Theater und Kinos florieren. Doch der Boom bedroht das architektonische Erbe.
Ein zweigeschossiges Gebäude, das einen halben Straßenblock einnimmt, dunkelrot getüncht, mit wuchtigen, verzierten Holzbalkonen und einem cremefarbenen Dachfries: Hier wohnte einst Simón Bolívar, der Befreier halb Südamerikas, der im Jahr 1823 nach Lima kam, das Land Peru wie ein Diktator regierte und die Spanier endgültig aus Südamerika vertrieb. Casa Bolívar heißt der imposante Stadtpalast aus dem 17. Jahrhundert, seit 1972 steht er unter Denkmalschutz. Dennoch ist er vernachlässigt, verkommen, verfallen: ein Slum en miniature.
An die 30 Familien wohnen, durch Bretterwände getrennt, in den einst prächtigen Zimmerfluchten. Die ehemalige Hauskapelle ist zu Dusche und Waschküche umgewandelt. Über ein finsteres, verwahrlostes Treppenhaus mit wirr über die Wände gelegten Stromleitungen erreicht man im ersten Stock einen zum Innenhof hin offenen Säulengang, in dem eine Frau unter kreuz und quer hängenden Wäscheleinen Anticuchos brät, die peruanischen Rinderherz-Spieße. Neben der Kneipe im Erdgeschoss liegt ein düsteres, muffiges Internet-Café. Es riecht nach Essen und Urin, zwei kleine Mädchen starren auf einen Fernseher. Teilnahmslos blickt der Heilige Franziskus von Assisi aus seinem kunstblumenbekränzten Schrein über sie hinweg, die Bibel und einen Totenschädel in der Hand.
Lima, 1535 gegründet als „Ciudad de los Reyes“, als Stadt der Könige, avancierte schnell zum noblen, steinreichen Zentrum des spanischen Kolonialreichs in Südamerika. Auch heute noch ist Perus Hauptstadt ein architektonisches Kleinod ersten Ranges. Doch die Betonung liegt auf noch.
Menschenpumpe Zentrum
Die Casa Bolívar ist eines von rund tausend Gebäuden im Zentrum Limas, die die Architektin Silvia de los Ríos für gefährdet hält. Weil seit Jahrzehnten stets das Geld zur Erhaltung gefehlt hat, gewiss. Aber seit ein paar Jahren lauert noch eine andere Gefahr: Peru boomt, und der Großraum Lima entfaltet die Hälfte der nationalen Wirtschaftskraft – da nimmt der Druck gewaltig zu, das Zentrum „in neoliberaler Regellosigkeit“ umzukrempeln, wie die Architektin klagt.
Der historische Distrikt mag nachts wie ausgestorben daliegen. Tagsüber ist er wie eine Pumpe, die jeden Morgen bis zu zwei Millionen Menschen ansaugt und nachmittags wieder in die Vorstädte ausstößt. Das mache ihn so attraktiv für die Investoren, die Shopping-Malls bauen wollen und Denkmalschutz „eher als Fluch“ ansehen, sagt die Architektin und Stadthistorikerin. „Wir haben dieses Juwel geerbt, und wenn wir nicht aufpassen, werden wir es verlieren.“
Der Großraum Lima mit seinen 8,5?Millionen Menschen ist die viertgrößte städtische Agglomeration Südamerikas – und neuerdings eine der dynamischsten und optimistischsten. Nach den Achtzigern, die als verlorenes Jahrzehnt verbucht wurden, und den Neunzigern, in denen sich das Blatt langsam zu wenden begann, brachte das vergangene Jahrzehnt vor allem Wachstum und Aufschwung. Einkaufszentren und Apartment-Blöcke schossen wie Pilze im Regen aus dem schmalen, zwischen Pazifik und Anden gequetschten Wüstenstreifen, auf dem Lima steht.
Doch die Stadt und ihr Großraum haben sich auch auf andere Weise drastisch verändert. „Die Kultur folgt den ökonomischen Zyklen“, sagt der Soziologe Santiago Alfaro. Heute werden in Lima fast dreimal so viele Bücher verkauft wie zur Jahrtausendwende, es gebe viel mehr Theater als früher, obwohl die Theaterkarte doppelt so viel koste. Dass auch die Zahl der Kinobesuche von 15 auf 21?Millionen pro Jahr zugelegt hat, hält Alfaro angesichts der DVD-Piraterie – was auf dem Markt ist, sei zu 98?Prozent geraubt – für geradezu sensationell.
Paul McCartney, Deep Purple, Justin Bieber, Beyoncé – dass Lima attraktiv geworden ist für Weltstars, liegt nicht nur an den Steueranreizen oder an dem ausgebauten Stadion, das nun das zweitgrößte Südamerikas ist, sondern vor allem an einer neuen Mittelschicht, die sich nach den schwierigen Jahren „in den globalisierten Kulturkonsum einklinken will“, wie Martin León sagt, ein Kollege Alfaros. Und natürlich an einer noch reicher gewordenen Oberschicht: Limas Umsatz an Luxusgütern dürfte sich verdreifachen, seit vor einem Jahr das „Boulevard Jockey Plaza“ eröffnete, eine Mall voller Edelmarken-Boutiquen.
Urbanistische Aussichtslosigkeit
Marginalität und Megastädte – diese beiden Vokabeln beschrieben die urbanistische Aussichtslosigkeit früherer Jahrzehnte. Aber dass die Metropolen an den Rändern endlos ins immer Unwirtlichere wuchern; dass sie sozial, ökologisch, politisch unbeherrschbar werden; dass sie schon aufgrund ihrer Größe unregierbar sind – dieses Lamento aus den Siebzigern und Achtzigern ist in Südamerika deutlich leiser geworden.
Denn die Landflucht ist vorbei, und der Rohstoff-Boom, die Asien-Nachfrage, das Wirtschaftswachstum haben die öffentlichen Kassen leidlich gefüllt. Politiker und Stadtplaner bauen wieder Straßen und Stadtbahnen. Sie investieren in Krankenhäuser und Kläranlagen. Sie modernisieren das Schulwesen und die Sozialversorgung. Sie renovieren historische Quartiere und werten Slums zu Wohnvierteln auf.
Seit 1990 ist der in Slums wohnende Anteil der städtischen Bevölkerung Lateinamerikas von 33,7 auf 23,5 Prozent gesunken, und das geht wohl weniger auf öffentliche als auf private Investitionen zurück. Nicht, dass soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit verschwunden wären, im Gegenteil, im Boom verschärfen sie sich oft noch. Dennoch: Vielen geht es besser. In Peru gilt nicht mehr, wie vor zehn Jahren, jeder Zweite als arm, sondern knapp noch jeder Dritte. 57 Prozent der Limeños zählen heute zur früher winzigen Mittelschicht.
Und hier fanden die gewaltigen sozialen Verschiebungen statt, die Perus Aufstieg ausmachen. Vor vierzig, fünfzig Jahren wucherten in Limas Norden und Süden – woanders ist ja kaum Platz – die Barriadas, wie die Slums in Peru genannt werden. Aber nach und nach konsolidierten sie sich, und heute leben rund fünf von den achteinhalb Millionen Bewohnern der Stadt in diesen einst elenden Vororten. In den Achtzigern wurde mit dem Bau einer S-Bahn begonnen, dann ging das Geld aus. Aber seit Juli fährt sie nun endlich vom aus Barriadas entstandenen Süden ins Zentrum.
Das MegaPlaza, ein Einkaufsparadies im Norden der Stadt, zieht Jahr für Jahr 34 Millionen Besucher an, so viele wie kein anderer Kaufpalast Perus. 80 Prozent der Limeños haben Internet-Zugang, praktisch 100 Prozent telefonieren per Handy. Die Kredit- und Kundenkarten sind so populär geworden, dass die Regierung Werbekampagnen entwerfen ließ, um der rauschartigen Massenverschuldung entgegenzutreten.
Lima sei London näher als seinem Umland, fand Alexander von Humboldt vor zwei Jahrhunderten, und den Ruf der Stadt als weiße, aristokratische, europäisch geprägte „Perle des Pazifiks“ pflegte die herrschende Schicht bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. 1964 aber räumte der Journalist Sebastián Salazar Bondy in seinem Essay „Lima, die Schreckliche“ mit dem verlogenen Mythos auf: Die Oligarchie leugne die Realität der Ausbeutung und ihren Rassismus gegenüber Indios und Mestizen, schrieb er, sie ignoriere einfach die sozialen Folgen der Landflucht. Im selben Jahr übrigens wurde in Lima „Die Stadt und die Hunde“ öffentlich verbrannt – Mario Vargas Llosas fulminanter Erstling, für den Lima die trist-brutale Kulisse der Romanhandlung abgibt.
Entvölkerung des Anden-Hochlands
In den Achtzigern beschleunigte der Terrorismus des „Leuchtenden Pfades“ die Entvölkerung des Anden-Hochlands. Lima wurde immer größer. Als die Maoisten auch hier Bomben zündeten, verließ die Oberschicht das Zentrum. Banken und Firmen-Hauptquartiere siedelten sich in neuen, dezentralen Geschäftsvierteln an, ihre Angestellten zogen in die Hochhäuser oder in die Hochsicherheits-Wohnanlagen an der Peripherie.
So wie das einst herrschaftliche Stadtzentrum auf der Suche nach einem neuen Sinn ist, so hat die traditionelle Elite ihre Deutungshoheit verloren. Früher waren es Immigranten aus Übersee, die in Peru etwas wurden, heute stammen die sozialen und wirtschaftlichen Aufsteiger aus der Provinz. Sie führen stärker denn je die aristokratischen Hochnäsigkeiten früherer Epochen ad absurdum. „Andere Geschmäcker, andere Themen schieben sich in den Vordergrund“, beobachtet der Soziologe Alfaro. „Die Unterklassen-Ästhetik wird zur Quelle der Inspiration.“
Das beste Beispiel heißt Susana Baca. Die schwarze Sängerin entstammt der Kultur der Zuckerrohr- und Baumwoll-Sklaven, die früher vom traditionellen Kulturbetrieb völlig ignoriert wurde. Sie sang jahrzehntelang ohne kommerziellen Erfolg, entdeckt wurde sie erst Anfang der Neunziger – im Ausland, von David Byrne, dem Gründer der Talking Heads. Peruanische Lokalkultur, die auf dem Weg der Globalisierung Anerkennung findet: Im Juli hat der neue, linksnationalistische Präsident Ollanta Humala die 67-Jährige zur Kulturministerin berufen.