Jesuitenpater im Oster-Interview: „Papst Franziskus entscheidet oft langsam und wenig transparent“

Was hat das Oberhaupt der katholischen Kirche in seiner zehnjährigen Amtszeit erreicht? Bascha Mika im Gespräch mit dem Jesuiten und Theologen Hans Waldenfels.
Herr Waldenfels, vor Ostern wird an das Leiden und Sterben Jesu gedacht. Wenn Sie sich den Zustand der katholischen Kirche so anschauen – erleben wir hier das Leiden und Sterben einer Religionsgemeinschaft?
Ich bin ein gläubiger Mensch und hoffe, dass dies nicht eintritt. Aber Tatsache ist, dass heute sehr viele Gläubige an der Kirche irre werden. Dass sie die Institution unglaubwürdig finden und sie – auch aus Schmerz – verlassen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass viele Menschen eine Sehnsucht nach spiritueller Wegführung haben. Doch auch da versagt die Kirche sehr. Sie ist momentan keine Wegweiserin.
Woran der Papst als kirchliches Oberhaupt ja nicht unschuldig sein kann. Franziskus ist wie Sie Jesuit. Sind Sie ein Fan Ihres Ordensbruders?
Wir alle waren begeistert, als Jorge Bergoglio Papst wurde. Es war überraschend, dass ein Jesuit in dieses Amt kommt – zumal wir versprechen, nie nach kirchlichen Ämtern zu streben. Aber Franziskus war ja schon in Argentinien Bischof, dann Kardinal und er muss im Konklave mit seinen Grundideen so überzeugend gewesen sein, dass er tatsächlich gewählt wurde.
Keine roten Schuhe, schlichte Brille, Gewänder von der Stange – Franziskus orientiert sich, wie sein Name schon sagt, eher am Bettelmönch Franz von Assisi als an Ignatius von Loyola, dem Gründer Ihres Ordens.
Darin zeigt sich rückblickend auch ein Teil des Problems. Wofür steht Franziskus eigentlich? Er ist mit großem Elan angetreten, die Kirche zu erneuern, und hat sich dabei in der Folge von Ignatius auf die inneren Regungen des Geistes berufen. Doch man kann nicht auf den Heiligen Geist warten und das als Ausrede nutzen, um keine Entscheidungen zu treffen. Franziskus trifft oft keine Entscheidungen, er weicht aus. Deshalb herrscht zurzeit großes Chaos in der Kirche.

Der Papst wollte sich für Frauen, Geschiedene, Homosexuelle einsetzen. Sein Amtsantritt war vor zehn Jahren. Ist er als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet?
Das ist zu einfach. Wenn man Franziskus richtig beurteilen will, darf man seinen Vorgänger nicht vergessen. Als Papst Benedikt seinen Rücktritt an einem Karnevalsmontag ankündigte, hat das ja niemand ernst genommen. Rund um diesen Rücktritt wurde auch viel vertuscht. Und es war gar nicht gut, wie Benedikt dann zurückgetreten ist. Er hätte den weißen Rock ausziehen, seinen Papstnamen ablegen und Rom verlassen müssen. Hat er alles nicht getan. Er wollte schweigen, hat aber weiter geredet. Franziskus hat sich immer bemüht, zwischen den beiden keine Dissonanzen aufkommen zu lassen. Aber vieles konnte er nicht umsetzen, weil Benedikt sich anders positioniert hat.
War Benedikt also eine Art Gegenpapst?
Viele Konservative haben das so gesehen. Nehmen wir als Beispiel die Amazonas-Synode, die 2019 im Vatikan stattfand. Die Mehrheit der Synodenväter war dafür, wegen des großen Priestermangels die Weihe bei verheirateten Männern in Ausnahmen zuzulassen. Franziskus hätte dem sicher beigestimmt. Aber genau zu diesem Zeitpunkt kam ein Buch heraus mit einem Beitrag von Benedikt. Darin besteht er darauf, dass das Zölibat unumstößlich sei. Benedikts Position fand öffentlich großen Widerhall – obwohl er als Professor Ratzinger in Tübingen noch verkündet hatte, dass die Kirche kleiner werde und es verheiratete Männer als Priester geben müsse.
Sie haben sich in zwei Büchern mit Franziskus beschäftigt. Wie würden Sie seine Persönlichkeit skizzieren?
Was mir auffällt: Die Bibelauslegung ist nicht seine Stärke. Ich vermisse bei ihm, dass er sich intensiv auf die Heilige Schrift einlässt. Das würde ihm zum Beispiel auch bei der Frauenfrage helfen. Mich interessiert nicht, wie gesellschaftspolitisch über die Frauenfrage diskutiert wird, sondern was in der Heiligen Schrift steht. Und da haben sie die berühmte Maria von Magdala. Ihr ist Jesus nach der Auferstehung zuerst erschienen, nicht seinen Jüngern. Es war diese Frau, die den Auftrag bekam, die Auferstehung zu bezeugen. Frauen müssen also eine wichtige Rolle in der Kirche spielen!

Worin sehen Sie die größte Niederlage von Papst Franziskus?
Die Kirche richtig in Gang zu setzen. Es gibt zwei Themen, mit denen wir uns kirchenintern ständig beschäftigen – Sexualität und Finanzen. Dazu hat Franziskus mal was ganz Wichtiges gesagt: Die Kirche darf nicht um sich selbst kreisen, sonst wird sie krank. Aber genau das tut die katholische Kirche seit Jahren. Sie kreist um die Strukturen und die eigenen Dinge, statt sich mit den Menschen zu beschäftigen, mit den Armen und Kranken und denen, die keinen Ort mehr haben in der Welt. Die Kirche hat doch eine Sendung ...
... vermittelt aber den Eindruck, es ginge ihr hauptsächlich um den Erhalt ihrer Macht ...
Sie haben recht, es ist eine Frage der Macht. Auch bei der Unfehlbarkeit des Papstes, die beim ersten Vatikanischen Konzil 1870 verkündet wurde, geht es um nichts anderes als Macht. Dieses Dogma hat Einfluss auf alle anderen Fragen und Probleme, mit denen sich die Kirche herumschlägt.
Und was ist Franziskus’ größter Verdienst?
Dass er die Kirche geöffnet hat! Die Öffnung, die er verkündete, bleibt bestehen – und das ist auch richtig! Nur an der Umsetzung hapert es eben. Ich weiß nicht, ob Franziskus noch die Kraft hat, das zu ändern. Er ist ein sehr kranker Mann. Das hören bestimmte Leute nicht gern, ist aber so.
Gibt es deshalb Spekulationen um seinen Rücktritt?
Da ist er selbst ein bisschen doppelzüngig. Auf der einen Seite fährt er nach Fumone – also in die Stadt, wo im Mittelalter der erste Papst nach seinem Rücktritt blieb. Und weil er ein Mann der Symbole ist, haben sich natürlich alle gefragt, ob das ein Hinweis sein soll. Auf der anderen Seite dementiert er, an Rücktritt zu denken. Seine Widersprüchlichkeit belastet die Situation der Kirche zusätzlich.
Zur Person
Hans Waldenfels wurde 1931 in Essen geboren und trat 1951 in den Jesuitenorden ein; 1963 wurde er zum Priester geweiht. Er studierte Philosophie, Theologie und Religionsphilosophie; nach seiner Habilitation übernahm er in der Nachfolge von Josef Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt, den Lehrstuhl für Fundamentaltheologie an der Uni Bonn. Waldenfels war Berater der Deutschen Bischofskonferenz und hat zahlreiche Bücher geschrieben.
Sein jüngstes Buch „Auferstehung. Unterwegs zu einem neuen Menschen und einer neuen Schöpfung“ erschien 2022. mik Bild: Herder Verlag
Die Widersprüchlichkeit zeigt sich auch an anderer Stelle?
Und ob. Da gibt es den Erzbischof von Paris, Michel Aupetit, der über Nacht abgesetzt wird, weil er angeblich ein Verhältnis mit einer Frau hatte. Offenbar ist es eine schlimme Sache, eine Frau nur falsch anzugucken. (Lacht) Doch nachdem Franziskus den Amtsverzicht selbst unterschrieben hat, antwortet er während eines Fluges auf die Frage nach Aupetit: Dem sei großes Unrecht geschehen. Ja, was denn nun? Ist Aupetit unschuldig oder war es richtig, ihn abzusetzen?
Was mit Kardinal Woelki in Köln längst hätte passieren müssen ...
Ja, da sind die Entscheidungen von Franziskus ziemlich undurchsichtig. Die einen Amtsträger werden sehr schnell abgelöst – wie Aupetit oder der Osnabrücker Bischof Bode –, während er die anderen einfach weitermachen lässt. Dabei ist doch klar: Wenn ein Bischof wie Woelki das Vertrauen seiner Herde verloren hat, dann sollte er gehen! Oder gegangen werden. Dass der Papst ihn immer noch nicht abgesetzt hat, ist ein großer Schaden für unsere Kirche.
Kümmert sich Franziskus überhaupt entschieden genug um die Missbrauchsverbrechen?
Es ist nicht eine Frage des Kümmerns, sondern der Entscheidungen. In einigen Fällen weltweit hat er sofort eingegriffen, in anderen lässt er es laufen – selbst wenn sich die Amtsträger beim Thema Missbrauch schuldig gemacht haben. Für mein Empfinden hätte er bei Woelki längst auf die Gläubigen hören müssen. Hier geht es nicht um Missbrauch, sondern um sein Ansehen im Volk. Und ganz unabhängig davon, was Woelki falsch gemacht hat – das ist keine Basis. Die Leute gucken weg, wenn sie ihn sehen.
Der Vatikan-Experte Marco Politi hat zwei Bücher über Franziskus geschrieben. Das eine heißt „Franziskus unter Wölfen“, das andere „Das Franziskus-Komplott“. Klingt ein bisschen nach finsterer Verschwörung à la Dan Brown. Ist Franziskus tatsächlich ein Opfer des Klerus?
Es klingt schlimm, aber im Prinzip hat Politi recht. Franziskus ist zwar kein Opfer, aber es gibt Leute – wie den ehemaligen Vatikan-Diplomaten Vigano –, die öffentlich gegen ihn opponieren und Verschwörungstheorien verbreiten. Letztlich ist der Papst ein einsamer Mensch. Er hat zwar einen sehr breit aufgestellten Beraterstab und hört auch viele Leute an. Kürzlich noch den nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Doch was hat Herr Wüst im Blick auf den ganzen Kummer in Köln ausgerichtet? Franziskus ist sehr nah bei den Menschen, aber welche Konsequenzen hat das? Er entscheidet oft langsam und wenig transparent.
Der deutsche Synodale Weg, ein Gesprächsformat zwischen Bischöfen und Laien, fordert: Segnung für homosexuelle Paare, Predigterlaubnis für Frauen, Prüfung des Pflichtzölibats. Doch der Vatikan will nicht zulassen, was hierzulande beschlossen wurde. Was sagen Sie zu dieser offensichtlichen Missachtung der Gläubigen?
Das Thema Synodaler Weg hat seine Tücken. Aber wenn ich höre, dass der Luxemburger Kardinal Hollerich zur Segnung von Homosexuellen, dem Zölibat und der Rolle der Frauen sagt, dass man darüber reden könne, ja, dass man das von Johannes Paul II. vertretene Verbot der Frauenweihe überdenken müsse, lässt das hoffen. Hollerich ist schließlich nicht irgendwer, sondern Generalrelator – also Hauptberichterstatter – bei der nächsten großen Bischofssynode, die über zwei Jahre laufen soll. Mehr kann ich doch im Moment von unserer Kirche nicht verlangen.
Was viele Gläubige sicher anders sehen ... Noch eine Frage zu Ihnen. Sie sind bereits als junger Mann in den Jesuitenorden eingetreten ...
... mit 19 Jahren nach dem Abitur. Das war 1951, ein Jahr, in dem allein in der Niederdeutschen Provinz 28 Männer zum Orden kamen. Heute sind es pro Jahr zwei oder drei in der gesamten Europäischen Union ...
Würden Sie sich heute wieder für ein Leben als Jesuit entscheiden?
1951 hatte ich von der Welt noch nicht furchtbar viel mitbekommen. Aber der Ordenseintritt beginnt ja mit zwei Jahren Noviziat. In diese Zeit gehören auch die sogenannten Experimente wie der Dienst im Krankenhaus. Ich bin sehr glücklich, dass bei mir eines dieser Experimente die sechswöchige Arbeit in einer Zeche war. In Wattenscheid, unter Tage, bei der Zeche „Fröhliche Morgensonne“. Die Kumpels waren sehr interessiert an einem, der Priester werden will, und hatten bei allen Themen eine Standardfrage an mich: Was sagt denn deine Natur dazu? Mit anderen Worten, wie steht es um deine Sexualität? (Lacht) Aber um auf Ihre Frage zu antworten: Auch wenn der Orden heute anders ist – ja, ich würde diesen Weg wieder gehen.