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Oskar Lafontaine zum Mauerfall: „Meine Prognose ist leider eingetreten“

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Von: Stephan Hebel

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Oskar Lafontaine
Der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine steht am Freitag (07.03.97) vor einer Büste von Willy Brandt. © Karl Mittenzwei / dpa

Oskar Lafontaine spricht über seine Erinnerungen an den Mauerfall, seine Ideen zur deutschen Einheit und seine Vorstellungen von Willy Brandt.

Herr Lafontaine, in Ihrem politischen Leben hat es einige Brüche gegeben: Sie haben 1990, kurz nach der deutschen Vereinigung, eine Bundestagswahl verloren. Davor, im Wahlkampf, hat Sie eine Attentäterin mit einem Messer verletzt. Später, 1999, haben Sie überraschend die rot-grüne Bundesregierung verlassen und 2005 auch die SPD. Welcher war für Sie der einschneidendste dieser Brüche?
Das Attentat hat mein Leben verändert. Auch der Rücktritt als SPD-Vorsitzender und Finanzminister war ein tiefer Einschnitt. Die Partei zu verlassen, der ich 39 Jahre angehört hatte, war schmerzhaft und wurde mir von vielen Weggefährten übel genommen. Meine Antwort auf ihre Vorwürfe war: Ihr seid aus dem Programm ausgetreten und in der Partei geblieben, ich bin aus der Partei ausgetreten und im Programm geblieben.

Das klingt, als würden Sie Ihre Karriere gar nicht als Abfolge von Brüchen erleben, sondern als Kontinuität.
Es gab die Brüche, aber auch Erfolge in meiner Zeit als Oberbürgermeister und Ministerpräsident. Und auch als Parteivorsitzender der SPD und der LINKEN. Die Kontinuität hieß und heißt: Festhalten an einem starken Sozialstaat und an der Friedenspolitik Willy Brandts.

Oskar Lafontaine zur Zeit nach dem Mauerfall: „Meine Prognosen sind leider eingetreten“

Noch einmal der Reihe nach: Sie haben sich im Wahlkampf 1990 gegen „nationale Besoffenheit“ und – aus ökonomischen Gründen – gegen eine schnelle Vereinigung gewandt. War das ein Irrtum?
Ich habe die Stimmung in der Bevölkerung falsch eingeschätzt, die ökonomische und soziale Entwicklung aber richtig. Ich wollte eine redliche Antwort auf die Fragen geben, die im Zuge der deutschen Vereinigung auftauchten. Meine Prognose, dass es zu hoher Arbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen kommen würde, wenn die D-Mark zum Kurs 1:1 eingeführt wird, ist leider eingetreten.

Standortbestimmung: Dem ausgrenzenden „Wir“ muss man ein inkludierendes Gesellschaftsbild entgegensetzen. Gerade am 9. November. Unser Leitartikel. 

Sie haben nach dem Mauerfall auch argumentiert, es könnte die Sozialsysteme überlasten, wenn DDR-Bürger sich ohne Einschränkung in der Bundesrepublik ansiedeln könnten. Sehen Sie darin eine Parallele zu Ihrer heutigen Einstellung in der Flüchtlingspolitik?
Ich wandte mich gegen das Versprechen Helmut Kohls, die Einheit sei ohne Steuererhöhungen zu verwirklichen. Zudem wurde sie statt über Steuern über Sozialbeiträge finanziert, was die Ungleichheit verschärfte. Sehr früh warb ich dafür, statt die Ostdeutschen mit finanziellen Anreizen in den Westen zu locken, mit Milliardenbeträgen die Infrastruktur im Osten auszubauen, um den Menschen vor Ort zu helfen.

Oskar Lafontaine zur Flüchtlingspolitik: Hilfe vor Ort statt Hilfe für wenige

Noch einmal zur Flüchtlingspolitik: Sie sagen ja auch dort, es solle besser vor Ort geholfen werden.
Wenn wir einen Teil der Milliarden, die wir für die Flüchtlinge in Deutschland bereitstellen, für die Flüchtlingslager im Vorderen Orient und Afrika ausgeben würden, würden wir das Leben von Millionen Menschen verbessern. Ich verstehe nicht, warum Politiker, die den Anspruch haben, links zu sein, nicht einsehen, dass es besser ist, einer weitaus größeren Zahl von Menschen in den Lagern zu helfen als den relativ wenigen Menschen, die zu uns kommen.

Das heißt?
Die soziale Gerechtigkeit ist unteilbar. Sie verpflichtet uns, den Ärmsten zu helfen, die zu schwach sind oder nicht das Geld haben, nach Europa zu kommen.

Oskar Lafontaine: „Das ist Neokolonialismus“

Bei diesem Thema geht der Bruch mitten durch Ihre Partei. Warum kann man sich nicht einigen, Solidarität einerseits in den Herkunftsländern zu üben, aber andererseits offenere Grenzen anzustreben, zumal die Lage dort nicht besser geworden ist?
Natürlich kann man beides tun. Aber man muss vorrangig vor Ort helfen, sonst kommen immer mehr Menschen zu uns. Und was die Migration angeht: Es ist besser, wie Albert Schweitzer in Afrika Krankenhäuser zu bauen und vor Ort zu helfen, statt afrikanische Ärzte abzuwerben. Das ist Neokolonialismus.

Das wird kaum jemand bestreiten. Worüber also streiten Sie in der Linkspartei?
Die mittlerweile etwas relativierte, von Gregor Gysi unterstützte Position der Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger – Alle können kommen und alle erhalten 1050 Euro im Monat – das findet kein Verständnis bei Leuten, die arbeitslos sind oder niedrige Löhne oder Renten beziehen. Es ging und geht auch nicht um offene Grenzen für alle – Ich wohne an einer offenen Grenze –, sondern der Vorschlag der Parteiführung heißt in Wirklichkeit: Offener Sozialstaat für alle. Demgegenüber hat die UNO gerade erst festgestellt: Gerade aus Afrika kommen nicht die Schwächsten zu uns, sondern die Mittel- und Oberschicht.

Oskar Lafontaine: Sorgen der Leute muss man anerkennen

Ein Kompromiss wäre in der Sache also möglich?
Es gibt schon ein Kompromiss-Papier, auf das sich die Partei- und die Fraktionsvorsitzenden geeinigt haben.

Sie haben zuletzt an niemanden so viele Stimmen verloren wie an die AfD.
Viele Arbeiter und Arbeitslose, die uns noch 2009 gewählt haben, können nicht nachvollziehen, wenn Politiker die Konkurrenz im Niedriglohnsektor und auf dem Wohnungsmarkt nicht sehen wollen und auch die Probleme in den Schulen mit vielen Kindern, die nicht Deutsch sprechen, nicht zur Kenntnis nehmen, die besonders in den Stadtbezirken auftreten, wo die Leute mit geringem Einkommen wohnen.

Oskar Lafontaine.
Oskar Lafontaine. © imago images / Becker&Bredel

Aber warum keine Sozialpolitik, die für Einheimische und Zuwanderer gleichermaßen reicht? Geld ist doch genug da.
Geld ist genug da? Das ist die Lebenslüge des grün-liberalen Milieus und klingt in den Ohren der Leute mit niedrigen Löhnen und Renten wie Hohn.

Oskar Lafontaine über Bewegung „Aufstehen“: Entwicklungen anstoßen

Gregor Gysi hat einmal gesagt, wenn man „halbrechte“ Positionen vertrete, verlöre man den Charakter als linke Partei. Das war auf Sie gemünzt. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, auch diese Partei zu verlassen?
Eine linke Position ist es, den Schwächsten zu helfen, die in den Flüchtlingslagern unter schwierigsten Bedingungen leben, und nicht den Stärkeren. Bernie Sanders beispielsweise hat das verstanden: „Was die Rechte in diesem Land liebt, ist doch eine Politik der offenen Grenzen. Bring jede Menge Leute, die für zwei oder drei Dollar die Stunde arbeiten. Das wäre toll für die.“

Und zu meiner Frage?
Angesichts des zunehmenden Verfalls des linken Lagers werbe ich dafür, dass SPD und Linke einmal darüber nachdenken, ob sie nicht längerfristig zusammengehen und sich auf ein gemeinsames Programm verständigen wollen. Unverzichtbar dabei wäre der Ausbau des Sozialstaates, eine friedliche Außenpolitik, ein Europa der guten Nachbarschaft und eine Umweltpolitik, die nicht zulasten der Leute mit geringem Einkommen geht, sondern vor allen Dingen auf den Ausbau umweltfreundlicher Technologien und der öffentlichen Infrastruktur setzt. Um eine solche Entwicklung anzustoßen, wurde ja auch die Bewegung „Aufstehen“ ins Leben gerufen.

Oskar Lafontaine: „Blauhelm-Einsätze sind ein Instrument der Friedenssicherung“

1995 sind Sie SPD-Vorsitzender geworden, und zwar in einer Kampfabstimmung gegen Rudolf Scharping. Auch so ein Bruch, ungewöhnlich für die Partei.
Ja, aber er war notwendig. Es gab damals schon programmatische Differenzen, etwa bei der Frage von Militäreinsätzen. Und es war absehbar, dass Scharping die Bundestagswahl 1998 nicht gewinnen würde.

Sie waren selbst 1992 daran beteiligt, die Position der SPD in Richtung Auslandseinsätze unter UN-Mandat zu öffnen. War das aus heutiger Sicht falsch?
Nein. Es ging nicht um Kampf-Einsätze, sondern um Blauhelm-Einsätze. Die halte ich auch heute für ein Instrument der Friedenssicherung.

Im Jahr 1998 sind nicht Sie Kanzlerkandidat geworden, sondern Gerhard Schröder. Sie haben damals verzichtet, nachdem Schröder seine Landtagswahl in Niedersachsen gewonnen hatte. Tut Ihnen das heute leid?
Ja. Weil ich mich dadurch mitverantwortlich fühle für den von Schröder durchgesetzten Sozialabbau und die Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen. Ich hatte es ja in der Hand, die Kanzlerkandidatur selbst zu übernehmen.

Oskar Lafontaine: Kosovo-Einsatz war „der Bruch mit der Außenpolitik Brandts“

Nach einem halben Jahr dann der große Bruch mit Schröder, Ihr Rücktritt von allen politischen Ämtern. Sie sagen, Schröder habe Zusagen nicht eingehalten. Nennen Sie doch bitte ein Beispiel.
Wir hatten vereinbart, wichtige Entscheidungen in Sach- und Personalfragen gemeinsam zu treffen. Als er als Kanzlerkandidat nominiert war, hat er sich daran nicht mehr gehalten. Die Vorschläge, Jost Stollmann zum Wirtschaftsminister zu machen und Bodo Hombach zum Kanzleramtsminister, waren mit mir nicht abgestimmt.

Gab es auch sachliche Punkte?
Ausschlaggebend war, dass Schröder und Fischer noch vor der Regierungsbildung zu US-Präsident Bill Clinton geflogen sind und ihm den Kriegseintritt im Kosovo zugesagt haben – ohne mich zu informieren. Das war der Bruch mit der Außenpolitik Willy Brandts.

Oskar Lafontaine will SPD und Linke wieder zusammenführen

Kommen wir zum Bruch mit der SPD. Bis heute wird Ihr Austritt im Jahr 2005 in der Partei und in der Berichterstattung als „Fahnenflucht“ oder „Verrat“ bezeichnet…
Ja, das ist das in der Psychologie bekannte Phänomen, dass man die eigenen Fehler und Schwächen gerne anderen vorwirft. Meine Kritiker verzeihen sich nicht den Verrat an ihren Wählern durch Sozialabbau und Kriegsbeteiligungen. Aus ihnen spricht das schlechte Gewissen.

Haben Sie sich manchmal gefragt, ob es falsch war, aus der SPD auszutreten?
Selbstverständlich.

Und die Antwort?
Ich wollte durch die Gründung der Partei Die Linke eine Mehrheit für soziale Verbesserungen im Bundestag erhalten. Das klappte, weil die Linke 2005 Wähler für sich gewonnen hat, die nicht mehr für die SPD gestimmt hätten. Und wir wollten die SPD dazu drängen, ihre neoliberale Politik wieder zu ändern. Nachdem das nicht gelungen ist, mache deshalb ich jetzt den Vorschlag, die beiden Parteien perspektivisch wieder auf der Grundlage eines echten sozialdemokratischen Programmes zusammenzuführen, das auch die Eigentumsfrage wieder stellen muss.

Wenn ich Sie richtig verstehe: Das hätten Sie aus heutiger Sicht aus der SPD heraus genauso gut versuchen können.
Vielleicht . Aber der neoliberale Zeitgeist hatte die SPD immer mehr erfasst, bis zum heutigen Tag.

Die linke Mehrheit im Bundestag, von der Sie sprechen, gibt es heute nicht mehr. Kann sie überhaupt noch ein Ziel sein?
Sie muss. Denn nur dann kann man den Sozialstaat wieder herstellen und das weitere Erstarken der AfD verhindern. Diese Mehrheit gab es ja nicht nur 1998, sondern auch 2005 und 2013. Aber die Sozialdemokratie hat die historischen Chancen leider nicht genutzt.

Es gibt noch eine Bruchstelle in Ihrem Leben, die wir bisher nicht angesprochen haben: Ihre Krebserkrankung 2009, die ja heute zum Glück überwunden ist.
Sie hat dazu geführt, dass ich mich aus der Bundespolitik zurückgezogen habe und eine Zeitlang nicht wusste, ob und wie ich weitermachen könnte. Die Entwicklung der Partei Die Linke wäre sonst vielleicht anders verlaufen. Das bedauere ich. Denn wir hatten uns bis dahin bei Arbeitern und Arbeitslosen sehr viel Vertrauen erworben, von denen heute sehr viele an die AfD abgewandert sind.

Interview: Stephan Hebel

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